Trauer und Freude vermischen sich häufig im Leben und fordern von uns seelische Kräfte, die wir nicht immer haben. Trauer bedeutet anstrengende Arbeit, die der Mensch in Angriff nehmen muss.
Er ist in sich gekehrt und mit seiner eigenen Situation beschäftigt. Er vermisst, er denkt nach, er macht sich Sorgen über seine Zukunft und betrauert die Veränderung seiner Situation. Im Gegensatz dazu bringt uns die Freude oft neue Erfahrungen: neue Freunde, neue Wünsche, neue Träume und neue Ideen.
Die Omerzeit ist im Grunde genommen eine sehr fröhliche Zeit. Tagtäglich wird gezählt, 49 Tage ab dem zweiten Abend von Pessach und bis zur Nacht vor Schawuot.
Nachdem wir an Pessach den Auszug aus Ägypten und damit die Geburt des jüdischen Volkes gefeiert haben, machen wir uns auf den Weg zum Sinai und warten darauf, dass uns die Tora gegeben wird. Das bringt uns Freude und erfüllt uns mit Stolz, aber vor allem erfüllt es uns mit Bedeutung und fordert uns heraus. Die Tora ist nicht nur ein Geschenk, sondern ein Weg.
Die Omerzeit ist im Grunde genommen eine sehr fröhliche Zeit. Doch sie ist auch zur Trauerzeit geworden.
Kommunikation Doch auch solche Zeiten können Probleme mit sich bringen. Man wird kritisiert, man wird hinterfragt: Passt euch die Tora überhaupt? Lebt ihr so gut miteinander, dass die Tora in eure Hände und euren Besitz gegeben werden kann?
Diese Fragen wurden damals vom Engel an G’tt gestellt, als er die Tora an Mosche übergab. Die Fragen stellten sich auch Anhänger anderer Religionen, als sie sahen, wie sich die Juden benahmen. An uns wurde deutliche Kritik geübt, weil wir untereinander nicht gut kommunizierten.
Doch die Omerzeit ist auch zur Trauerzeit geworden. In dieser Zeit starben 24.000 oder nach anderen Angaben sogar 36.000 Schüler von Rabbi Akiwa. Dieser war ein großer Gelehrter zur Zeit der Zerstörung des Zweiten Tempels. Er fing bei null an, überwand alles, um Größe zu erwerben, und kletterte sehr hoch auf den Berg der Tora.
Sein Wissen und seine Tugenden waren so vollkommen, dass er zu den wichtigsten Gelehrten gehörte – nicht nur zu seiner eigenen Zeit – und zum Lehrer vieler Schüler wurde.
Rabbi Akiwa ist uns vor allem durch seinen eindeutigen Lebensgrundsatz bekannt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – dies ist die wichtigste Regel der Tora.«
Es ist aber nicht ganz klar, wann er diesen Ausspruch getätigt hat. In den Tagen zwischen Pessach und Lag BaOmer, dem 33. Tag der Omerzeit, starben auf einmal alle Schüler von Rabbi Akiwa – ob im Krieg gegen die Römer oder an einer Epidemie, ist uns nicht bekannt.
Menschlichkeit Wir wissen aber ganz sicher, dass sie einander keine Ehre erwiesen und sich gegenseitig nicht respektierten. Anders gesagt, gehörte die Nächstenliebe nicht zu ihren Stärken. Die Trauer der Omerzeit ist ihnen gewidmet. Auf dem Weg zum Sinai müssen wir lernen, dass die Tora uns nicht nur Gebote befiehlt, die für die Beziehung zwischen uns und G’tt gelten. Die Tora erwartet von uns Menschlichkeit, die den Schülern von Rabbi Akiwa leider gefehlt hat.
An seinem Todestag, an Lag BaOmer, gab es starkes Licht in der Welt.
Fünf neue Schüler, darunter auch Rabbi Schimon Bar Jochai, lernten später bei Rabbi Akiwa, nachdem das Sterben der ersten Schüler an Lag BaOmer aufgehört hatte und Rabbi Akiwa neue Schüler annahm. Diesmal waren es nicht so viele wie früher, aber es waren Menschen mit besonderen Qualitäten.
Rabbi Schimon Bar Jochai ist uns aus unterschiedlichen Geschichten bekannt. Eine der bekanntesten darunter ist folgende: In der Diskussion mit anderen Rabbinern nannte Rabbi Schimon Bar Jochai die Römer »egoistisch«, da alles, was sie gebaut hatten, vom Badehaus bis zum Marktplatz, einzig und allein ihren eigenen Zwecken und nicht dem Wohl der jüdischen Bevölkerung diente.
Römer Jehuda ben Gerim, der dabei war und das hörte, erzählte es weiter, und so musste sich Rabbi Schimon gemeinsam mit seinem Sohn Rabbi Elazar verstecken. Zwölf Jahre lang verbrachten sie in einer Höhle, bis die Gefahr vorüber war.
Als die beiden ihre Zuflucht verlassen hatten, konnten sie es nicht ertragen, dass Menschen etwas anderes taten, als die Tora zu lernen. Deshalb mussten sie erneut für ein Jahr in die Höhle zurückkehren, bis sie wieder die Menschen in ihrer Arbeit wertschätzen konnten. Rabbi Schimon Bar Jochai ist der Rabbiner, der den Sohar, den grundlegenden Text der Kabbala, mit seinen Schülern lernte und offenbarte. Es ist ihm zu verdanken, dass der verborgene Teil der Tora bekannt geworden ist.
Bis heute entzünden viele Menschen weltweit Lagerfeuer an Lag BaOmer, um dieses besondere Licht der Tora wieder so groß zu mache.
An seinem Todestag, an Lag BaOmer, gab es starkes Licht in der Welt. Lag BaOmer hat somit zwei Bedeutungen: Es ist der Tag, an dem das Sterben der Schüler von Rabbi Akiwa aufhörte, und der Tag, als sein großer Schüler, Rabbi Schimon bar Jochai, die Welt verlassen und uns eine tiefere Möglichkeit eröffnet hat, die Tora zu lernen und G’tt näherzukommen.
Meron Bis heute entzünden viele Menschen in Israel und weltweit Lagerfeuer an Lag BaOmer, um dieses besondere Licht der Tora wieder so groß zu machen wie in den Tagen von Schimon Bar Jochai. Sein Grab befindet sich in Meron im Norden Israels. Mehrere Zehntausend Menschen kommen rund um Lag BaOmer dorthin. Es wird gebetet, getanzt und gesungen.
Es gibt besondere Nigunim – Melodien, die für Lag BaOmer in Meron geschrieben wurden. Rund um die Uhr kommen große Rabbiner sowie chassidische Rebben und zünden Feuer an.
Auch viele Familien kommen mit ihren dreijährigen Kindern, um die Chalake-Haarschneide-Zeremonie dort zu vollziehen. Sie alle wollen Lag BaOmer feiern – das Fest von Rabbi Schimon Bar Jochai und das Fest, an dem es um die verborgene Seite der Tora geht.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.