In der Stunde, da die Israeliten ihre Schofarot nehmen und sie vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, blasen, erhebt sich Gott vom Thron des Rechts und setzt sich auf den Thron der Barmherzigkeit, wie es heißt: »Es erhebt sich Gott bei Schall (Terua), der Ewige beim Ton des Schofars« (Psalm 47,6). Gott wird mit Erbarmen über sie erfüllt, erbarmt sich ihrer und wandelt ihren Bewertungsmaßstab von dem des Rechts in jenen der Barmherzigkeit um. Wann geschieht das? Im siebten Monat.
Im Midrasch Wajikra Rabba (29,3) wird beschrieben, wann und unter welchen Umständen Gott bereit ist, in der Bewertung der Geschöpfe die Maßgabe des Rechts zurückzustellen zugunsten eines milden, von Barmherzigkeit geleiteten Urteils: wenn im siebten Monat die Stimme des Schofars erklingt. In der Tora wird Rosch Haschana als »Jom Terua« bezeichnet. (Die Idee eines Jahresanfangs und die Monatsnamen von Tischri bis Elul waren erst Mitbringsel aus dem Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v.d.Z.)
TÖNE Aber was genau ist unter diesem »Jom Terua« (4. Buch Mose 29,1) zu verstehen? Leopold Zunz und Naftali Herz Tur-Sinai übersetzen das als »Tag des Posaunenschalls«, Samson Raphael Hirsch als »Tag erschütternden Tones« und Buber-Rosenzweig als »Geschmetters Tag«. Und die Bezeichnung »Sikkaron Terua« im 3. Buch Mose 23,24 wird noch vieldeutiger wiedergegeben als »Gedächtnis(tag) des Trompetenschalls« (Zunz), als »Mahnung des Posaunenschalls« (Tur-Sinai), als »Terua-Rückblick« (Hirsch) und als »Gedächtnisschmettern« (Buber-Rosenzweig). Die Vorstellungen darüber, was ein Schofar ist und welche Töne Gott bewegen sollen, auf den Thron der Barmherzigkeit zu wechseln, gehen also ziemlich weit auseinander.
Heutige Posaunen und Trompeten sind kompliziert aufgebaute Blechblasinstrumente und haben nicht viel mit Klang und Beschaffenheit eines Tierhorns zu tun. Von biblischen Zeiten bis in die Gegenwart haben Musikinstrumente große Wandlungen durchlaufen. Das betrifft die Gestalt des Instruments ebenso wie dessen Funktion. Früher wurde ja auf Blasinstrumenten nicht allein Musik gemacht, sondern sie dienten auch als Signalgeber und übermittelten Informationen bei der Jagd, im Krieg oder bei Ausbruch eines Feuers.
Nach biblischem Zeugnis erklang der Schofar aus unterschiedlichem Anlass.
Nach biblischem Zeugnis erklang der Schofar aus unterschiedlichem Anlass, etwa bei der Gabe der Tora am Sinai (2. Buch Mose 19,16), bei der Ausrufung eines Joweljahrs (3. Buch Mose 25,9), beim Einsturz der Mauern Jerichos (Jehoschua 6), zur Verkündung des Neumonds (Psalm 81,4), als Unterstreichung von Prophetenworten (Joel 2,1) und natürlich zum Jom Terua am ersten Tag des siebten Monats. Und es soll auch der Große Schofar sein, der dereinst den Anbruch der Erlösung markieren wird (Jeschajahu 27,13).
Für uns heute ist klar: Der im Elul, zu Rosch Haschana und am Ausgang von Jom Kippur ertönende Schofar ist keine Posaune, sondern hierzulande meist das Horn eines Widders. Aber auch Hörner von anderen Tieren wie Steinbock oder Antilope sind geeignet. Jemenitische Juden verwenden häufig das Horn eines Kudu, das etwa einen Meter lang und mehrfach gewölbt ist. Weil es durch seine imposante Gestalt den performativen Akt des Blasens unterstreicht, wird es auch außerhalb der jemenitischen Tradition gern benutzt.
vergebung Der Babylonische Talmud überliefert im Traktat Rosch Haschana 26a die Erklärung, warum allerdings das Horn einer Kuh untauglich ist als Schofar: Es bringe die Sünde des Goldenen Kalbs in Erinnerung – und das in einem Moment, da wir auf Vergebung hoffen.
Und obwohl die Hörner verschiedener koscherer Tierarten als Schofar dienen können, wird zu Rosch Haschana doch ein Widderhorn bevorzugt, denn es erinnert an den Widder, der anstelle Jizchaks als Opfer dargebracht wurde.
Dass der Schofar als »Posaune« übersetzt wird, ist Martin Luther zuzuschreiben.
So versteht Raschi die Funktion der in den Sichronot und Schofarot zitierten Bibelverse, eben das »Gedächtnisschmettern« (3. Buch Mose 23,24). Die Akeda, die Bindung Jizchaks (1. Buch Mose 22), ist auch die Toralesung für den zweiten Tag von Rosch Haschana. Woher kommen dann aber die Klänge von in Ton und Bauart ganz und gar unähnlichen Blechinstrumenten in die Übersetzungen?
langtrompete Dass der Schofar als »Posaune« übersetzt wird, ist Martin Luther zuzuschreiben. Er wollte auf die Signalfunktion des Blasens hinweisen und eine Brücke zur Klangwelt seiner zeitgenössischen Leserschaft bauen. Aber hier handelte es sich nicht um die heutige Posaune, sondern wohl eher um eine Busine, eine hölzerne Langtrompete. Immerhin legte Luther hiermit den Grund für die Posaunenchöre, die als charakteristisch für protestantische Musik gelten. Warum aber der jüdische Gelehrte Leopold Zunz im 19. Jahrhundert die Übersetzung des Schofars als »Posaune« fortführt, ist rätselhaft. Ob die Vorstellung eines Tierhorns als zu archaisch angesehen wurde?
Trompeten hingegen waren ein fester Bestandteil von jüdischen Ritualen der Tempelzeit. Allerdings hatten auch diese wenig mit den heute gebräuchlichen Instrumenten gemein. Vielmehr waren es lang gezogene silberne, nach vorn geweitete Röhren, und der Ton wurde nicht mithilfe von Löchern und Ventilen geformt, sondern ähnlich wie beim Schofar mit den Lippen.
Auch die Trompeten waren ein Medium der Ankündigung: Im Kriegsfall, an Feiertagen, als Begleitmusik zur Darbringung von Opfern – und zum Gedächtnis. Denn nicht allein die Menschen, auch Gott sollte aufmerken: »So sollt ihr schmettern mit den Trompeten, und eurer wird gedacht werden vor dem Ewigen, eurem Gott, und ihr werdet gerettet werden vor euren Feinden« (4. Buch Mose 10,9).
KRÖNUNG Bei der Krönung eines Königs, zu Fastentagen und bei der Ausrufung eines Hakhels, der Großen Volksversammlung alle sieben Jahre zu Sukkot, wurden sogar beide Instrumente, Schofar und Trompete, gemeinsam zu Gehör gebracht. Diese Praxis vergegenwärtigen wir uns auch heute noch jede Woche, wenn wir während Kabbalat Schabbat den Psalmvers 96,6 singen: »Mit Trompeten und der Stimme des Schofars blast vor dem König, dem Ewigen.«
Die urtümlichen Töne des Widderhorns haben eine psychologische und eine magische Dimension.
Nach dem 4. Buch Mose 10,10 sind die Trompeten auch bei der Ausrufung des neuen Monats zu blasen – und Rosch Haschana ist ja zugleich der erste Tag des Monats Tischri. In der Mischna (Rosch Haschana 3,3) wird sogar berichtet, dass an diesem Tag Schofar und Trompeten geblasen wurden: »Der Schofar des Neujahrstages war vom Steinbock, gestreckt, mit goldbelegter Mündung, zu beiden Seiten zwei Trompeten. Der Schofar dehnte, die Trompeten kürzten den Ton, denn das Gebot des Tages verlangt den Schofar.«
kohen Die Rede ist hier von der Feier des Jom HaTerua zu Tempelzeiten. Ein Kohen blies Schofar, während zwei Kohanim rechts und links von ihm standen und zwei silberne Trompeten bliesen. Allerdings sollten sie früher aufhören, damit der Ton des Schofars nachklingen konnte. Dieser Schofar war aus dem Horn eines Steinbocks (offenbar wurde das Blasen noch nicht mit der Akeda Jizchaks assoziiert) und an seinem Auslauf mit Gold verziert.
Im doppelten Klang von Schofar und Trompeten finden sich die drei Hauptthemen von Rosch Haschana wieder: Malchujot (die Bekräftigung der Herrschaft Gottes), Sichronot (beide Instrumente werden zur Vergegenwärtigung früherer Ereignisse und Verdienste geblasen) und Schofarot (mit den vielfältigen Bezügen der Schofarklänge vom Berg Sinai bis zur Erlösung). Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verschwanden die Trompeten aus der Feier des ersten Tischri.
Den charakteristischen Klang von Rosch Haschana bildet seither das Widderhorn. Sein durchdringender Ton soll ein Weckruf sein – zunächst für uns Menschen, um aus unseren Routinen aufzuwachen, uns unserer Verfehlungen bewusst zu werden und umzukehren.
Aber der Ton soll auch bis zum Himmlischen Thron vordringen, um Gott daran zu erinnern, nun Erbarmen walten zu lassen. Die so urtümlichen Töne des Schofars haben also eine psychologische und eine magische Dimension. Und ganz gleich, welche man davon überzeugender findet: »Glücklich ist das Volk, das den Klang des Terua kennt, Ewiger, im Lichte Deines Angesichts wandeln sie« (Psalm 89,6).
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).