Offenbar wurden Traktate des Talmud häufiger studiert als andere, stellte Rabbiner Meir Schapiro (1887–1933) in den 20er-Jahren fest. Zudem lasen Juden den Talmud an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander. Wer auf Reisen war oder den Wohnort wechselte, war zudem häufig mit der Tatsache konfrontiert, dass die örtliche Jeschiwa sich mit einem vollkommen anderen Stoff beschäftigte als das heimische Lehrhaus.
Der in Litauen geborene und damals schon in New York lebende Rabbiner Schapiro präsentierte deshalb 1923 in Wien ein Programm mit dem Ziel, weltweit gemeinsam – und zwar unabhängig vom Ort – den gesamten Talmud zu studieren.
Die Idee von »Daf Jomi«, der »täglichen Seite«, war geboren. Man beginnt zu einem festgelegten Datum mit dem ersten, beidseitig bedruckten Blatt des ersten Traktats Berachot und lernt täglich ein weiteres Blatt. Bei den 2.711 Blättern des Talmud ergibt dies eine Gesamtdauer von sieben Jahren und etwas mehr als vier Monaten. In dieser Zeit hat man den gesamten Talmud durchgearbeitet. Der Vorteil dieser Methode ist, dass alle, die den Plan kennen, überall auf der Welt das gleiche Blatt lesen.
Austausch Heute, im Zeitalter der kurzen Kommunikationswege, kann man sich überall über das Blatt austauschen, oder sich zu Gruppen zusammenfinden. So wurde die Idee von Rabbiner Schapiro populär und hat sich auch außerhalb seines charedischen Spektrums durchgesetzt. Viele Kalender zeigen heute auch das Talmudblatt des Tages an.
Vor zwei Wochen, am 3. August, begann der Zyklus wieder von vorn. Damit auch Juden davon profitieren können, die keine Jeschiwa besucht haben und ohne Hilfe im »Meer des Talmud« schwimmen müssen, bieten nun zwei Verlage und Herausgeber den Talmud in einer Form an, die für jeden Kenntnisstand geeignet ist. Eine bloße Übersetzung wird nämlich nicht ausreichen. Zahlreiche Konzepte und Schlüsselbegriffe wollen eindeutig erklärt und erläutert werden. Die knappe Ausdrucksweise des Textes wäre mit einer reinen Übersetzung nicht zu durchschauen.
Edition Der Artscroll-Verlag bietet die 2.711 Seiten in 73 Bänden und mehreren Formaten an. In der englisch-aramäischen »Schottenstein-Edition« entsprechen die acht Seiten der Übersetzung etwa einem Blatt, zahllose Fußnoten vertiefen einzelne Themen, liefern Quellennachweise und Verweise auf die klassischen Kommentare. Im Zentrum steht aber der vokalisierte Originaltext, der Satz für Satz übersetzt und erklärt wird. Das klassische Blatt der Ausgabe von Wilna ist den meisten Ausgaben jeweils der Übersetzung gegenübergestellt.
Der Jerusalemer Verlag Koren Publishers beginnt mit dem neuen Daf-Jomi-Zyklus eine englisch-aramäische Ausgabe des Steinsaltz-Talmud in 41 Bänden. Diese basiert wiederum auf einer hebräisch-aramäischen Ausgabe mit einer hebräischen Übersetzung des Textes von Rabbiner Adin Steinsaltz. Sie ist als Studienhilfe bereits weit verbreitet und wartet mit einem intelligenten Kommentar und Erklärungen auf – sei es zu Personen des Talmud, behandelten Themen oder des Umfelds, in dem der Text entstand.
Kommentare Diese Ausgabe enthält auch Bilder und Illustrationen von Tieren, Pflanzen oder Gegenständen, von denen im Text die Rede ist. Die englische Übersetzung steht jeweils neben einem hebräischen oder aramäischen Absatz, ist jedoch viel länger, weil sie mit erklärenden Einschüben versehen ist. Am Blattrand und am Seitenende sind die Kommentare und Bilder untergebracht.
Ungewöhnlich: Man öffnet »lateinisch« von links nach rechts. Wenn man »hebräisch« öffnet, enthält die Ausgabe die klassischen Blätter der Wilnaer Ausgabe. Allerdings vollständig vokalisiert. Beide Teile verweisen durch Zahlen aufeinander.
Der Traum von Rabbiner Meir Schapiro, dass sich viele Menschen mit dem Talmud beschäftigen, hat sich erfüllt. Im vergangenen Zyklus waren es Hunderttausende. Diesmal wird die Zahl wohl noch übertroffen. Beide Verlage bringen übrigens eine App für iPhone oder iPad heraus. Man muss nur noch wählen. Dann kann das Studium beginnen.
www.artscroll.com, www.korenpub.com