Michael besucht in München das Freiherr-von-Lancé-Gymnasium. Vor einem Jahr ist die Schule in die Schlagzeilen geraten, weil ein Schüler das Gebäude in Brand setzen wollte. Michael kannte ihn, er geht mit der Schwester des Irren in dieselbe Klasse. Zum Glück ist es nicht zum Anschlag gekommen. Der Möchtegern-Brandstifter prahlte in einem Internetforum damit, dass bald etwas Schlimmes passieren würde. Dann kam er ins Plappern, und da schaltete ein Forumsteilnehmer sofort die Polizei ein.
Am nächsten Tag traf ein Care-Team in der Schule ein und betreute die Schüler psychologisch. Viele Mädchen begannen zu weinen, ein paar Jungs bekamen weiche Knie. Michael blieb ziemlich cool. Das hat ein bisschen mit seiner Herkunft zu tun.
Hart Als seine Familie aus dem weißrussischen Grodno nach München zog, war Michael zwei Jahre alt. Mit ihnen sind die Großmutter und eine Tante gekommen. Am Anfang lebten sie zu fünft in einer Zweizimmerwohnung! Jahrelang erhielt Michael seine Kleidung von jüdischen Gemeindemitgliedern. Das war ziemlich hart. Jeden Tag, wenn er in den Kindergarten kam, machten sich die anderen einen Spaß, herauszufinden, von wem die Hose und das T-Shirt stammten. Damals schwor sich der Junge, einmal reich und unabhängig zu werden.
Michael ist ein Einzelkind und hat ziemlich strenge Eltern. Vor ein paar Tagen sagte ihm sein Vater: »Mischka, dieses Jahr baust du die Laubhütte auf. Ich muss geschäftlich nach Russland.« Sein Vater ist vor zwei Jahren religiös geworden. Ein Chabad-Rabbiner hat herausgefunden, dass sein Ururgroßvater ein bedeutender Rabbiner in Grodno war.
Nun steht Michael im Garten und schaut auf die Holzpfähle, die ihm sein Vater hingelegt hat. Zu behaupten, Michael sei ein geborener Handwerker, wäre eine Lüge. Unschlüssig öffnet er den Werkzeugkasten. Darinnen sieht er: Hammer, Nägel, Zange und Fischköder. Verflixt, wie baut man eine Laubhütte? Er nimmt das Handy aus der Tasche und schaut im Internet nach. Vier Wände braucht es und ein Dach.
Michael sieht verärgert zu den Pfählen am Boden. »Das schaffe ich nie!«, denkt er. Gott hat kein Erbarmen und lässt es ein wenig regnen. Immer stärker schüttet es vom Himmel, und Michael sinkt langsam im sumpfigen Garten ein. Wütend rammt er vier Pfähle in den Boden und befestigt die weißen Leintücher daran. Sie flattern wild umher.
Beduinen Michael denkt an voriges Jahr. Damals war er mit einer jüdischen Jugendgruppe aus München in Israel. Eine amerikanische Organisation hatte den Flug und die Unterkunft bezahlt und sogar ein kleines Taschengeld verteilt. Es waren zwei geniale Wochen! In den letzten Tagen sind sie in die Wüste gegangen und haben bei Beduinen geschlafen. Die hatten auch ein Zelt – ein bisschen größer und stabiler als das von Michael jetzt.
Dort in diesem Zelt traf er auf Annika. Sie war Mitglied einer Gruppe aus Frankreich, und – wow! – sie sah einfach toll aus! Sie unterhielten sich auf Russisch und fanden heraus, dass auch Annika ursprünglich aus Grodno stammt. Sie war bezaubernd. Sie hatte langes schwarzes Haar und einen wunderschönen Mund. Wenn sie lachte, konnte Michael ihre leicht schiefen Zähne sehen. Er war auf der Stelle weg. So ein hübsches Mädchen wie sie gab es in München nicht. Annika kommt aus Bordeaux, einer Stadt in der Nähe des Atlantiks.
Matsch Ja, vor einem Jahr hat er sie kennengelernt. Es war superheiß in diesem Zelt. Und jetzt steht er im Matsch und versucht, eine Laubhütte zu bauen, mit sieben Pfählen und Großmutters altem Leintuch. Nach mehreren Versuchen steht die Sukka nun aber. Was fehlt, ist das Dach. Michael zückt sein Handy wieder hervor und googelt »Dach für Sukka«. Er braucht Bambusstäbe oder »immergrüne« Zweige.
Ein Blick bringt Erleichterung: Vorne steht die große Tanne, die an Weihnachten immer geschmückt wird. Schnell zieht Michael die Zange aus dem Werkzeugkasten und bricht sich ein paar dicke Zweige ab. Jetzt geht es ihm etwas besser. Die Sukka ist fast fertig, da blinkt seine Mailbox: ein Gruß von Annika! Der Regen hat nachgelassen, und Michael huscht in seine Sukka. Er liest: Lieber Mischka, ich bin’s, deine Annika. Du fehlst mir sehr, und ich wäre jetzt sehr gern bei dir. Hier ist alles sehr trist. Schreibst du mir zurück?«
Michael springt nach draußen und fotografiert mit dem Handy seine Laubhütte. Annika soll sehen, was für ein toller Häuslebauer er ist. In diesem Moment kommt seine Mutter und strahlt übers ganze Gesicht: »Das hast du toll gemacht, mein Kind! Hier, ein Geschenk.« Sie zieht einen braunen Umschlag aus ihrer Manteltasche und reicht ihn dem Jungen. Michael öffnet das Kuvert. »Ein Ticket nach Bordeaux! Wie hast du das herausgefunden? Wie lange weißt du das schon?« Seine Mutter lächelt. »Frauen spüren so etwas. Männer können dafür Hütten aufstellen.«