Fast immer lesen wir, wie in diesem Jahr, die beiden Wochenabschnitte Matot und Massʼej an einem Schabbat zusammen. Nur in einem Schaltjahr, in dem Rosch Haschana auf einen Donnerstag fällt, oder wenn der achte Tag Pessach ein Schabbat ist, lesen wir die beiden Wochenabschnitte an zwei getrennten Schabbatot.
Es ist eine komplizierte Logik, nach der die 54 Wochenabschnitte der Tora auf die Schabbatot des Jahres verteilt werden. Wenn ein Feiertag auf Schabbat fällt, wird die Reihe unterbrochen, und stattdessen ist die besondere Lesung des Feiertags an der Reihe. Und je nachdem, ob es ein Schaltjahr ist – mit einem ganzen zusätzlichen Monat, dem 2. Adar –, wird die Situation noch komplizierter.
LESUNG Mit Matot–Massʼej kommen wir zwar nicht zum Ende der Tora, aber doch zum Ende ihres vierten Buches. Bei der feierlichen Lesung im Gottesdienst in der Synagoge markieren wir dies, indem zunächst der oder die Lesende und dann die ganze Gemeinde sagt: »Chasak, chasak, we-nitchasek«: Sei stark, sei stark, und wir stärken uns gegenseitig.
Wieder ein Stück geschafft, das feiern wir. Und in der Woche darauf beginnen wir dann mit dem fünften Buch, Dewarim.
Wir sind also nicht am Ende des Textes der Tora angelangt, aber doch am Ende der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste. Am Ostufer des Jordans angekommen, sieht das Volk Israel endlich das Ziel seiner Mühen auf der anderen Seite des Flusses vor sich: das Land Israel.
Auf dieses Ziel, diesen Moment strebt die Erzählung der Tora zu, seit Gott Awraham und Sara aufgefordert hat, in das Land zu ziehen, das Er ihnen zeigen wird. Merkwürdigerweise aber endet die Tora angesichts des Ziels, ohne es wirklich zu erreichen. Denn das folgende, letzte Buch der Tora erzählt die Geschichte nicht weiter, sondern besteht aus einem langen Rückblick Mosches auf alles, was geschehen ist.
verzögerung Es ist eine große Verzögerung, und man kann sich nur schwer vorstellen, mit welcher Ungeduld das Volk in diesem Moment Mosche zuhört. Der Einzug ins Land selbst wird erst im Buch Jehoschua erzählt, dem ersten Buch aus dem zweiten Teil des Tanach, den »Newiʼim«, den Prophetenbüchern, zu denen in der jüdischen Tradition auch die eher geschichtlichen Bücher Jehoschua und Richter gehören.
Möglicherweise ist dieses überraschende Ende der Tora, bevor sie eigentlich ihr Ziel erreicht hat, schon ein Hinweis darauf, dass das Leben im Land Israel, der Besitz des Landes, alles andere als selbstverständlich ist, dass dieses Leben und dieser Besitz immer wieder gefährdet sind, von außen wie von innen.
Die Lesung von Matot–Massʼej fällt in die Zeit zwischen den Fast- und Trauertagen 17. Tamus und Tischa beAw. Der 17. Tamus ist das Datum, an dem die Feinde Israels zweimal die Jerusalemer Stadtmauer durchbrachen, was dann drei Wochen später, an Tischa beAw, zur Zerstörung des Tempels und Jerusalems sowie der Vertreibung des Volkes aus dem Land Israel ins Exil geführt hat.
bedrängnis Diese drei Wochen heißen »Tage inmitten der Bedrängnis« und sind die traurigste Zeit im jüdischen Jahr. Als Zeichen der Trauer heiratet man nicht, besucht keine fröhlichen Veranstaltungen, lässt sich nicht das Haar schneiden, und isst – außer am Schabbat – weder Fleisch noch trinkt man Wein. Die Haftarot, die Prophetenlesungen dieser drei Wochen, werden zusammengefasst als »Haftarot de-Puranuta«, die Haftarot der Ermahnung. Die ersten beiden, also auch die für unsere Parascha, stammen aus dem Buch des Propheten Jirmijahu, die dritte ist dann der Anfang des Propheten Jeschajahu.
Während das Volk also in Matot–Massʼej an der Schwelle zum Land Israel angekommen ist, bevor der Traum vom eigenen Land Wirklichkeit wird, ist die Botschaft des Kalenders und die Botschaft der Haftarot eindeutig: Das versprochene Land kann auch wieder verloren gehen – die Verheißung ist nur dann erfüllt, wenn das Volk die Gebote hält.
An dieser Schwelle stellt sich die Frage nach Recht und Unrecht – und nach Verantwortung einer entstehenden Nation für ihr eigenes Rechtssystem. Hier diskutiert unsere Parascha den komplexen Fall einer unabsichtlichen Tötung. Im jüdischen Recht wird oft unterschieden, ob etwas mit Absicht oder aus Versehen geschah. Wenn zum Beispiel ein göttliches Gebot übertreten wurde, aber anderen Menschen kein Schaden geschehen ist, so bleibt das Handeln aus Versehen oft ohne Strafe.
SCHADEN Wenn jedoch ein Schaden entstanden ist, und umso mehr, wenn ein Leben zerstört wurde, so muss das Konsequenzen haben, unabhängig davon, ob es mit oder ohne Absicht geschah.
Es ist eindrucksvoll, wie genau die Tora unterscheidet zwischen dem angerichteten Schaden – ein Mensch hat unwiederbringlich sein Leben verloren – und der Situation desjenigen, der getötet hat, ohne es zu wollen. Angesichts der Wirklichkeit von Tod ist es für die Tora klar, dass etwas geschehen muss, man kann nicht darüber hinweggehen, auch wenn der Täter es gar nicht beabsichtigt hat.
Ganz klar ist, dass es in dieser Situation keine Sühne durch eine finanzielle Strafe geben kann. So wie das Leben des Getöteten unwiederbringlich beeinflusst ist – und das seiner Angehörigen nie wieder so werden kann wie vorher –, wird auch das Leben des Täters verändert.
Die Tora sieht deshalb die Einrichtung von sechs sogenannten Fluchtstädten vor, drei innerhalb des Landes, drei jenseits des Jordans, in die der Täter fliehen kann und vor der Blutrache der Angehörigen geschützt sein wird.
Unserem heutigen Rechtsverständnis, das der Absicht des Täters einen hohen Stellenwert beimisst, entspricht dies zwar nicht mehr. Aber es ist der Tora gelungen, den Kreislauf von Blutrache zu durchbrechen und den Wert jedes einzelnen Lebens deutlich zu machen.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Matot erzählt von Mosches letztem militärischen Unternehmen, dem Feldzug gegen die Midjaniter. Danach teilen die Israeliten die Beute auf und besiedeln das Land.
4. Buch Mose 30,2 – 32,42
»Reisen« ist die deutsche Übersetzung des Wochenabschnitts Mass’ej. Und so beginnt er auch mit einer Liste aller Stationen der Reise durch die Wildnis von Ägypten bis zum Jordan. Mosche sagt den Israeliten, sie müssten die Bewohner des Landes vertreiben und ihre Götzenbilder zerstören.
4. Buch Mose 33,1 – 36,13