Im Siddur, dem jüdischen Gebetbuch, stehen nicht nur Lobesworte, Bitten und Dankbekenntnisse; wir finden im Siddur auch einige Texte aus der Tora, die im Gottesdienst gesprochen werden. In dieser Betrachtung wollen wir das Gebot der Liebe zu Gott beleuchten, das im Schma-Gebet sowohl morgens auch als abends rezitiert wird: »Und du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen, und mit deiner ganzen Seele, und mit deinem ganzen Vermögen« (5. Buch Mose 6,5).
Dieser Vers, der jedem, der in einer Synagoge betet, wohlvertraut ist, bedarf der Erklärung. Denn zumindest drei Fragen drängen sich sofort auf. Erstens: Wie sieht Gottesliebe in der Praxis aus? Zweitens: Was ist der Unterschied zwischen »mit deinem ganzen Herzen« und »mit deiner ganzen Seele«? Und drittens: Wie gelangt man zur Gottesliebe?
grundhaltung Bevor wir die aufgeworfenen Fragen zu beantworten versuchen, sei festgehalten, dass wir eine der 613 in der Tora enthaltenen Mizwot vor uns haben. Der anonyme Autor des Sefer Ha Chinuch (13. Jahrhundert, Spanien) betont mehrfach, dass dieses Gebot ununterbrochen gilt. Wenn eine Mizwa ständig erfüllt werden muss, so bedeutet dies, dass von uns eine bestimmte Grundhaltung verlangt wird.
Die Tora schreibt jüdischen Menschen also nicht nur konkrete Handlungen vor –wie das Schofarblasen an Rosch Haschana oder das Mazzotessen in der Sedernacht –, sondern auch eine genau umschriebene Lebenshaltung.
Kehren wir nun zurück zum oben zitierten Vers. Das Gebot der Gottesliebe wird in einer Mischna (Berachot 54a) wie folgt erläutert: »Der Mensch muss (Gott) für das Schlechte ebenso preisen, wie er Ihn für das Gute preist, denn es heißt: Du sollst den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen usw. Mit deinem ganzen Herzen – mit deinen beiden Trieben, mit dem guten Trieb und mit dem bösen Trieb. Mit deiner ganzen Seele – selbst wenn Er dir deine Seele nimmt. Mit deinem ganzen Vermögen – mit deiner ganzen Habe. Eine andere Erklärung: Mit deinem ganzen Vermögen – danke Ihm für jedes Maß, mit dem Er dir misst.«
mischna Diese Mischna bedarf ihrerseits einer Erläuterung. Was bedeutet »mit beiden Trieben«? Man soll Gott nicht nur mit dem guten Trieb dienen, der den Menschen zur Gottesliebe bringt, sondern man soll Gott auch mit dem bösen Trieb lieben, und zwar, indem man diesen beherrscht und es ihm nicht ermöglicht, die Einstellung der Gottesliebe zu stören.
Und was bedeutet »selbst wenn Er dir deine Seele nimmt«? Die einfache Erklärung lautet, dass man prinzipiell bereit sein sollte, ein Martyrium auf sich zu nehmen. So lesen wir im Talmud (Berachot 61 b): »Die Stunde, da man Rabbi Akiwa zur Hinrichtung führte, war gerade die Zeit des Schma-Gebets, und man riss sein Fleisch mit eisernen Kämmen. Rabbi Akiwa aber nahm das Joch der himmlischen Herrschaft auf sich. Seine Schüler sprachen zu ihm: Meister, so weit!? Er erwiderte ihnen: Mein ganzes Leben grämte ich mich über den Schriftvers ›Mit deiner ganzen Seele – sogar dann, wenn Er deine Seele nimmt‹, indem ich dachte: Wann bietet sich mir die Gelegenheit, und ich will es erfüllen. Und jetzt, wo es sich mir darbietet, sollte ich es nicht erfüllen?«
Nach Ansicht von Rabbiner Emanuel Dreifuss (1806–1886) bezieht sich die Interpretation »selbst wenn Er dir die Seele nimmt« nicht nur auf den Sonderfall des Märtyrers, sondern auf jedes Lebensende: In der Stunde des Sterbens sollte nach der Deutung von Rabbiner Dreifuss jeder die Liebe zu Gott im Sinn haben. Wer in der letzten Stunde das Gebot der Gottesliebe erfüllt, hat Großes erreicht! Es versteht sich von selbst, dass die Erfüllung dieses Gebotes gewiss nicht leicht ist.
Wegweiser Wenden wir uns nun der Interpretation unseres Verses zu, die der Rambam, Maimonides (1135–1204), in seinem halachischen Kodex Mischne Tora (Hilchot Teschuwa, Kapitel 10) gegeben hat. Nach der Auffassung des Rambam ist das Gebot der Gottesliebe ein Wegweiser zur Stufe der Vollendung: »Wer aus Liebe Gott dient, der beschäftigt sich nicht mit der Tora und den Gesetzen aus irgendeinem selbstsüchtigen Motiv heraus, nicht aus Furcht vor Strafe noch um Lohn zu empfangen.« Er tue das Wahre nur »um des Wahren willen«, und das Glück werde schließlich von selbst kommen.
»Eine gewaltig große Stufe der Vollendung bekundet ein solches Verhalten«, fährt der Rambam fort. Nicht einmal jeder Weise gelange zu ihr. »Dies ist die Stufe der Vollendung, die unser Stammvater Awraham erreichte, den Gott seinen Freund nannte, weil er Ihm nur aus Liebe diente. Durch Mosche hat Gott uns dieses Verhalten anbefohlen, denn es heißt: Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben.«
Wenn nicht einmal jeder Weise zur Stufe der Vollendung gelangt, die Awraham erreichte, so ist klar, dass ein Weg anzugeben ist, wie man das Ziel erreichen kann. Der Rambam zitiert folgende Talmudstelle: »Der Mensch beschäftige sich immer mit der Tora, sei es selbst in unreiner Absicht; durch sie kann er doch noch zur Beschäftigung in reiner Absicht kommen« (Nasir 23a).
einsicht Der Rambam erklärt, dass man alle Unwissenden zunächst belehre, aus Furcht zu dienen und um des Lohnes willen, bis ihre Einsicht eine höhere Stufe erreicht hat: »Ganz langsam offenbare man ihnen dann dieses Mysterium (der Liebe) und gewöhne sie allmählich daran, bis sie es vollkommen begreifen und erkennen können und Gott dann aus Liebe dienen werden.«
In seinem Mizwot-Buch führt der Rambam den Midrasch Sifre an, der die Frage behandelt, wie man denn zur Gottesliebe gelange: Gleich nach dem Vers »Und du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott« heißt es in der Tora: »Und es sollen diese Worte, die Ich dir heute gebiete, in deinem Herzen sein« (5. Buch Mose 6,6). Durch ein Torastudium wirst du Gott erkennen und Ihn lieben.
Auch Raschi (1040–1105) zitiert diesen Midrasch in seinem Kommentar zu dem Vers. Und Rabbiner Jakob Zwi Mecklenburg (1785–1865) stellt fest, dass man zur Gottesliebe nur durch ein sorgfältiges Studium der Tora gelangt und nicht durch religionsphilosophische Untersuchungen.
Der Rambam führt ferner aus, dass das Gebot der Gottesliebe auch beinhaltet, dass wir alle Menschen dazu aufrufen, an Gott zu glauben und Ihm zu dienen. So habe schon Stammvater Awraham aus Liebe zu Gott Menschen zum Glauben bekehrt. Der Missionsauftrag des Judentums ist demnach im Gebot der Gottesliebe begründet. Bemerkenswert ist, dass der Rambam diese Vorschrift (hebräisch: Din) in seinem halachischen Kodex nicht bringt. Zwar beschreibt er an einer Stelle (Awodat Kochawim 1,3) Awrahams Bemühungen, seine Generation zum Gottesglauben zu bekehren – aber er leitet aus Awrahams Missionsarbeit keinen Din für die Zukunft ab.
Morgengebet Wir verdanken dem Siddur nicht nur eine zweimal täglich gesprochene Erinnerung an die Mizwa, Gott ständig zu lieben. Vor dem Schma-Gebet machen wir uns ebenfalls zweimal täglich deutlich, dass Gott Israel liebt! Im Morgengebet heißt es: »Mit großer Liebe hast Du uns geliebt, Ewiger, unser Gott.« Und am Ende dieses Segensspruches sagen wir: »Gesegnet seist Du, Ewiger, der Sein Volk Israel in Liebe erwählt hat.« Dass Gott Israel aus Liebe erwählte, steht ausdrücklich in unserem Wochenabschnitt (5. Buch Mose 7, 5–7).
Im Abendgebet sprechen wir einen Text mit einer anderen Akzentsetzung: »Eine ewige Liebe hast Du dem Haus Israel, Deinem Volk, zugewendet … Mögest Du Deine Liebe in ewigen Zeiten uns nicht entziehen. Gesegnet seist Du, Ewiger, der Sein Volk Israel liebt.« Hervorgehoben wird abends die Bitte, dass Gottes Liebe Israel ewiglich erhalten bleiben soll.
Die Sätze, die Beter unmittelbar vor und nach dem Schma-Bekenntnis rezitieren, erinnern in eindrucksvoller Weise an die Tatsache, dass Liebe eine gegenseitige Angelegenheit ist. Der deutsch-jüdische Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) bemerkte einmal, dass nur ein Liebender sagen darf: »Liebe mich!« Den das jüdische Leben prägenden Bund zwischen Gott und Israel kann man als ein Liebesverhältnis bezeichnen. Leider ist das Volk Israel diesem Bund (bereits in biblischen Zeiten) allzu oft untreu geworden. Aber der Weg der Umkehr zu den Geboten Gottes und dadurch zu einer Erneuerung der Liebesbeziehung bleibt stets offen.
Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Verknüpfungspunkte« (2010).
Inhalt
Der Wochenabschnitt beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu Gott die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11