Herr Rabbiner Nachama, stand es schon länger fest, dass der Vorsitz der Allgemeinen Rabbinerkonferenz neu besetzt werden würde?
Nein, wir waren längere Zeit davon ausgegangen, dass Rabbiner Henry G. Brandt, der jetzt 92 Jahre alt ist, sich noch einmal dazu aufraffen könnte. Aber weil er gesundheitlich so angeschlagen war, wurde die Wahl zweimal verschoben, einmal im November 2018 und dann im Januar 2019. Und weil es Rabbiner Brandt inzwischen immer noch nicht gut geht, hat er bei der Wahl im Februar nicht mehr kandidiert.
Können wir vom Ende einer Ära sprechen?
In gewisser Weise schon. 2005 war die Allgemeine Rabbinerkonferenz gegründet worden, mit Rabbiner Brandt als Gründungsvorsitzendem.
Was sehen Sie als die wichtigsten Errungenschaften der Amtszeit von Rabbiner Brandt an?
Der Meilenstein war, dass sich eine kleine Zahl von nichtorthodoxen Rabbinern 2005 in Braunschweig in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz zusammengeschlossen haben – und jetzt sind wir doch fast 30, eine verhältnismäßig große Zahl. Dazu hat natürlich auch das Abraham Geiger Kolleg mit der Ausbildung junger nichtorthodoxer Rabbiner beigetragen. Die ARK als ursprünglich kleine Einrichtung ist in diesen Jahren doch deutlich größer geworden. Das ist natürlich auch Brandts Verdienst gewesen– dass es attraktiv war für junge Rabbiner, in der ARK Mitglied zu werden und ein Forum des Austausches zu finden.
Denken Sie darüber nach, auch Kantoren aufzunehmen?
In den USA gibt es Kantorenvereinigungen, das müssten die Kantoren in Deutschland schon selbst auf die Reihe bekommen. Dann würde man sicherlich auch gelegentlich gemeinsame Sitzungen und Workshops machen. Aber eine Rabbinerkonferenz ist eine Rabbinerkonferenz!
Glauben Sie, dass die Zahl der Mitglieder der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Zukunft weiter wächst? Zahlenmäßig ist Ihnen die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) ja überlegen …
Insgesamt ist die Zahl der Gemeinden in der Bundesrepublik, die überhaupt Rabbiner haben, überschaubar. Die ORD hat mehr als 40 ordentliche Mitglieder, wir haben annähernd 30. Insofern, finde ich, ist das schon eine gute Größe. Sicherlich werden auch neue Rabbiner dazukommen, wenn weitere ausgebildet werden – und Gemeinden es schaffen, sie anzustellen.
Verfügen kleine jüdische Gemeinden in Deutschland über genügend finanzielle Mittel, um weitere Rabbiner anzustellen?
Aus meiner Sicht wäre es wünschenswert, dass noch mehr Gemeinden volle Stellen für Rabbiner schaffen. Viele von den jüngeren Rabbinern arbeiten in Teilzeit. Das finde ich nicht befriedigend, aber die finanziellen Verhältnisse kleiner Gemeinden sind eben so, wie sie sind. Das kann man auch nicht mit Gewalt verändern.
Gibt es immer noch viele »Wanderrabbiner«, die sich zwischen verschiedenen Gemeinden aufreiben?
Ja, es gibt auch einzelne, die am Geiger-Kolleg unterrichten und zu Feiertagen und besonderen Anlässen in Gemeinden gehen und rabbinische Gemeindearbeit machen. Nicht alle, die Mitglied in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz sind, haben auch eine Gemeinde – wie etwa Rabbiner Walter Homolka, der Rektor des Abraham Geiger Kollegs ist. Wenn jemand nicht Gemeinderabbiner ist, muss er deswegen ja nicht am Bettelstab hängen.
Das heißt, es ist nicht Bedingung für die Mitgliedschaft in der ARK, Gemeinderabbiner zu sein?
Man kann auch Mitglied sein, wenn man an einer Rabbinerhochschule unterrichtet. Man muss jedenfalls rabbinisch aktiv sein.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Aufgaben einer Rabbinerkonferenz? Ist Giur ein Thema?
Für Giur ist das Beit Din der Allgemeinen Rabbinerkonferenz zuständig. Da stellt sich natürlich die Frage des Umgangs mit Jüdinnen und Juden, die einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben. Wir haben diese Menschen immer als ganz »normale« Giur-Fälle behandelt, aber oft auch mit einem kleinen »Benefit« versehen, weil viele schon ihr ganzes Leben lang eine jüdische Identität haben.
Wollen Sie in Zukunft auf Vaterjuden bewusster zugehen?
Rabbinerkonferenzen haben im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Beschlüsse gefasst, die vorher schon mal anders getroffen wurden. Ich wage zu bezweifeln, dass wir das Thema in der ARK sofort angehen, aber es gibt eben – und das ist auch der Sinn von Rabbinerkonferenzen – Entscheidungen, die Ermessensfragen sind. Und das bedeutet auch: immer wieder neu diskutieren. Aber es steht nach dem jetzigen Stand der Dinge keine konkrete Entscheidung in der nächsten Zeit an.
Wie ist Ihre Zusammenarbeit mit der ORD? Bei welchen Gelegenheiten treten Sie gemeinsam auf?
Im Kontext der Eröffnung der »Woche der Brüderlichkeit« treffen sich die beiden Bischofskonferenzen immer mit den beiden Rabbinerkonferenzen zum Gedankenaustausch. Neulich habe ich den orthodoxen Rabbiner Julian-Chaim Soussan beim Gesprächskreis Christen und Juden des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in Frankfurt getroffen. Und völlig unabhängig davon, dass er und ich zu bestimmten Punkten unterschiedliche Positionen vertreten, können wir natürlich auf Augenhöhe miteinander diskutieren und von der jüdischen Gelehrsamkeit des jeweils anderen profitieren. Häufig liegen die Positionen ja nicht sehr weit auseinander. In aller Regel versuchen wir aber, öffentliche Kontroversen zu jüdischen Themen zu vermeiden und uns darüber untereinander auszutauschen.
Haben Sie sich für Ihre Amtszeit als Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz bestimmte Ziele gesetzt?
Meine Vorstellung geht schon dahin, dass die Rabbinerkonferenz der Ort ist, wo wir Rabbiner der ARK auch strittige Fragen der Zeit diskutieren und Lösungen dafür finden. Es ist immer leicht, zu etwas Nein zu sagen. Besser ist es, einen Weg zu finden, wie man bestimmte Dinge dann eben doch voranbringen kann. So hat das auch Rabbiner Brandt immer gesehen.
Was meinen Sie mit strittigen Fragen?
Es gibt mittlerweile gleichgeschlechtliche Ehen und eine ganze Reihe von Dingen, die sich in unserer Gesellschaft verändert haben und auf die wir als Rabbiner und Rabbinerinnen Antworten finden müssen.
Rabbinerin Gesa Ederberg hat neulich beim Gottesdienst angekündigt, gleichgeschlechtliche jüdische Paare könnten sich bei ihr zur Chuppa anmelden. Wie sehen Sie das?
Ich finde, das sind genau die Fragen, die eine Rabbinerkonferenz zu diskutieren und gegebenenfalls zu beschließen hat. Damit es nicht der eine so und der andere wiederum ganz anders macht. Ich hoffe, dass wir diese Fragen mit einem großen Konsens zunächst diskutieren und möglichst auch gemeinsam lösen werden. Mir ist prinzipiell wichtig, die Rabbinerkonferenz zu einem Forum zu machen, wo theologische Fragen der Zeit diskutiert werden. Ich würde gerne regelmäßig jüdische Gelehrte aus Potsdam und Heidelberg, aber auch von anderenorts einladen, um über Literatur und Wissenschaft zu sprechen und einen geistigen Diskurs zu initiieren.
Mit dem Vorsitzenden der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und jüdischen Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sprach Ayala Goldmann.