Das gesamte fünfte Buch der Tora, das Buch Dewarim, ist ein Moment des Innehaltens. Es blickt zurück auf die Ereignisse seit dem Auszug aus Ägypten und schaut voraus auf das bevorstehende Leben im Land Israel. In einer großen Rede bereitet Mosche das Volk Israel darauf vor, den Jordan zu überschreiten, das Land Israel zu erobern und darin zu wohnen.
Wer die vorangehenden drei Bücher der Tora gelesen hat, weiß, worin das einzige vorstellbare Problem mit diesem Plan für die Zukunft besteht. Es liegt nicht an Gottes Macht und Wille. Wieder und wieder sind seine Treue zu Israel und seine Fähigkeit, die Völker zu bezwingen, deutlich geworden. Nein, wer die Tora bis hierhin gelesen hat, der weiß, dass allein hinsichtlich der Treue und Zuverlässigkeit des Volkes Israel ein Fragezeichen für die großen Pläne Gottes besteht.
Dieses Problem, die Frage des Willens und des Könnens Israels, Gottes Plan für die Zukunft zu folgen, sind in der Parascha für diese Woche stärker angesprochen als irgendwo sonst. Die ersten Worte des Wochenabschnitts setzen zwar den bisherigen positiven Ton fort: »Und wenn ihr also auf diese Vorschriften hört, sie beachtet und sie erfüllt, dann wird auch der Ewige, euer Gott, den Bund achten und die Gnade, die er euren Vorfahren geschworen hat« (5. Buch Moses 7,12).
Etwas später aber wird dann doch direkt angesprochen, was hier noch implizit bleibt: Was passiert, wenn Israel Gottes Gebote nicht erfüllt? »Wenn du den Ewigen, deinen Gott, tatsächlich vergisst und anderen Göttern folgst, ihnen dienst und dich vor ihnen verneigst, sage ich dir heute, dass du mit Sicherheit zugrunde gehen wirst« (8,19).
Erfahrung Diese Skepsis Gottes beruht auf der Erfahrung der 40 Jahre in der Wüste: »Vom Tage, da du Ägypten verlassen hast, bis zu eurem Kommen zu diesem Ort, wart ihr widerspenstig gegenüber Gott« (9,7). Wir erinnern uns an die Geschichte vom Goldenen Kalb, das wiederholte Murren in der Wüste und die Panik aufgrund des Berichts der Kundschafter vom Lande Israel, der von übermächtigen Feinden erzählte und das Volk dazu brachte, den Einzug ins Land Israel zu verweigern.
Angesichts dieser durchaus durchwachsenen Vorgeschichte versucht unsere Parascha, das Selbstbewusstsein des Volkes zu stärken. Sie malt mit vielen Details aus, was Gott alles seinem Volk zugedacht hat im neuen Land: reichlich Essen, Fruchtbarkeit für Volk und Vieh, Gesundheit und Frieden. Weniger ausführlich, aber nicht weniger deutlich werden auch die Schrecken genannt, die das Volk erwarten, wenn es Gottes Wille nicht erfüllt: Hunger, Krankheit, Tod und Vertreibung aus dem Land.
Neben dieser Zurschaustellung von Zuckerbrot und Peitsche gibt es eine zweite Argumentationslinie, die die jüdischen Kommentatoren aller Zeiten beschäftigt hat: »Erinnere dich an den ganzen Weg, den dich der Ewige, dein Gott, diese 40 Jahre hat in der Wüste gehen lassen, um dich zu prüfen, um zu wissen, was in deinem Herzen steckt, ob du seine Gebote halten wirst oder nicht« (8,2). Diese Prüfung in der Wüste ist ja vom Volk schon bestanden worden. Die Erinnerung daran soll das Selbstbewusstsein vermitteln, auch den Anforderungen der neuen Situation im Lande Israel genügen zu können.
Hunger Wenn wir uns allerdings genauer anschauen, wovon diese Prüfung handelte, wird es schwierig. Der Text sagt: »Er ließ dich hungern und gab dir dann Manna zu essen, das du und deine Vorfahren nicht kannten« (8,3). Bestand die Prüfung darin, dass das Manna so schrecklich war? Dies ist kaum zu glauben, denn das Manna war doch ein Geschenk Gottes, das Israel am Leben erhielt. Sforno, ein Kommentator des späten Mittelalters, deutet die Prüfung so, dass Israel geprüft werde, ob es auch in guten Zeiten auf Gott hört. Andere Kommentatoren wie Nachmanides sehen gerade in der täglich erneuerten vollständigen Abhängigkeit von Gott die Prüfung.
Das heißt, es geht in der Prüfung nicht darum, ob das Volk Israel das Manna aß oder nicht, denn welche Wahl hatte das Volk schon? Die Alternative zum Manna wäre der Hungertod gewesen. Also ist diese »Prüfung« wohl eher zu verstehen als eine 40-jährige Einübung in das Vertrauen auf Gott und die Dankbarkeit für sein Handeln.
Wenn wir uns die Fortsetzung dieser Verse (8, 7-18) anschauen, wird noch deutlicher, dass es bei der Prüfung in der Wüste genau hierum geht: Die Gefahr des zukünftigen Lebens im Lande Israel besteht gerade im Reichtum der Gegend, der jede Erinnerung an die gefahrvolle Zeit mit Gott in der Wüste verblassen und so auch Gottes Gebote vergessen lässt. Deshalb wird auch davor gewarnt, sich selbst an Gottes Stelle für mächtig und stark zu halten, zu meinen, man selbst habe das Land erobert und sei für das gute Leben verantwortlich.
Feinde Nun geschieht allerdings etwas Seltsames. Israels Murren und Ungehorsam hat für die Wüstengeneration plötzlich keine negativen Konsequenzen mehr, denn Mosche hat sich bei Gott für das Volk eingesetzt, und so heißt es nun »nicht wegen deiner Gerechtigkeit und nicht wegen der Geradheit deines Herzens wirst du das Land besitzen, sondern wegen ihrer (der Feinde) Bosheit« (9,5).
So wird die Generation der Wüstenwanderung daran erinnert, dass schon einmal nicht ihr Gehorsam, nicht ihr Tun Tod und Vernichtung abwendete, sondern ausschließlich Gottes Liebe und Erinnerung an Awraham, Jizchak und Jaakow. Die Forderung, Gottes Gebote zu erfüllen, ihn zu lieben und allen Menschen, gerade den Schwachen und Fremden, Gerechtigkeit zu erweisen, wird dabei gerade nicht abgeschwächt. Sie wird wieder und wieder eingeschärft.
Wie so oft wird dieser Kerngedanke der Parascha durch die Haftara noch unterstrichen. Die Lesung aus Jesaja 49 beginnt mit der bitteren Klage des verlassenen Jerusalem und endet mit dem Dank für die Rettung und Heilung durch Gott, der sein Volk nicht vergessen hat und sich ihm wieder zuwendet.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Paraschat Ekew
Der Wochenabschnitt zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten, würden die Völker jenseits des Jordans friedlich bleiben und sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffend wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, das Land Israel werde vor Milch und Honig überfließen, wenn die Gebote beachtet und an die Kinder weitergegeben werden.
5. Buch Moses 7,12 – 11,25