Gibt es so etwas wie Gerechtigkeit? Und wenn ja, wie kann man sie erlangen? Das Judentum spricht von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als zwei parallelen und manchmal widersprüchlichen Phänomenen. In der Feiertagsliturgie flehen wir Gott häufig an, er möge uns Barmherzigkeit erweisen. Wir geben zu, dass ein gerechtes Urteil für uns schmerzhaft wäre und wir es lieber vermeiden würden. Anderen gegenüber zeigen wir selten diese Art Mitgefühl und moralische Flexibilität.
Von frühester Kindheit an sind wir uns dessen, was einige Moralphilosophen als »natürliche Gerechtigkeit« bezeichnen, bewusst: Es sei »gerecht«, wenn wir für etwas Schlechtes, das wir getan haben, bestraft werden, aber »ungerecht«, wenn wir uns zu Unrecht bestraft fühlen.
Aber wer soll das entscheiden, wenn nicht wir selbst? Menschliche Konflikte beginnen, wenn zwei Menschen glauben, dass sie das Recht auf ihrer Seite haben. Wenn sie sich nicht einigen können, muss zumindest eine dritte Person um ihre Meinung gebeten werden, jemand, dem beide Seiten vertrauen können, der die Beweise anhört und untersucht, der eine Entscheidung treffen kann, die hoffentlich beide Seiten akzeptieren. Ein Richter.
KONZEPT Da Gott der oberste Richter ist (deshalb sagen wir »Baruch Dajan HaEmet«, wenn wir von einem Todesfall hören), folgt daraus, dass andere Richter nachrangiger sind, eine untergeordnete Rolle spielen. Im Wesentlichen sind sie aber Teil desselben Systems: Sie repräsentieren nicht nur die Gerechtigkeit, sondern das Konzept der Gerechtigkeit, und deshalb verwendet die Tora manchmal sogar den Begriff »Gott« für Richter.
Aber wie kann man sicherstellen, dass die Richter würdige Menschen sind? Dass sie unbestechlich sind, nicht leicht zu beeinflussen durch Angst oder zu viel Respekt vor dem Status einer Person?
Die Tora (5. Buch Mose 16,18) spricht von »Mischpat Zedek«, einem gerechten Urteil. »Du sollst das Recht nicht beugen, du sollst kein Ansehen der Person kennen, und du sollst Bestechungen nicht annehmen, denn Bestechung macht die Weisen blind und verdreht die Worte der Gerechten« (16,19). Wie so oft zeigt die Tatsache, dass etwas ausdrücklich erwähnt und verboten werden muss, dass es traurigerweise vorhanden, ja sogar üblich war.
Das »Recht« lässt sich leicht verdrehen. So war Anfang der 1940er-Jahre fast alles, was die Nationalsozialisten taten, »legal«. Sie hatten die Gesetze geändert, um Verfolgung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, Folter und Hinrichtung zu ermöglichen. Und nach 1945 konnten alle, die daran beteiligt waren, sagen: Wir haben nur die Gesetze befolgt.
Selbst kleine Kinder konnten für schuldig befunden werden, der »falschen Rasse« anzugehören. Wir sehen also, dass es einen Unterschied zwischen dem Gesetz und der Justiz geben kann.
Was sollte ein guter Richter tun, wenn er zwischen diesen beiden Zwängen steht? Die Tora warnt davor, ein Symbol neben den Altar zu stellen, das auf eine andere Macht als Gott hinweist. Könnte eine Flagge oder ein Reichsadler so interpretiert werden?
ENTSCHEIDUNG Wenn die Richter eine (hoffentlich gerechte!) Entscheidung getroffen haben, sollte sie respektiert und befolgt werden. Im 5. Buch Mose 17,10 heißt es: »Du sollst dann nach dem Ausspruch handeln, den sie dir von dem Ort aus verkünden (…). Du sollst sorgfältig ganz so handeln, wie sie es dich lehren.«
Die meisten modernen Rechtssysteme lassen es zu, dass eine Partei, die sich im Unrecht fühlt, in Berufung geht. Aber irgendwann muss es eine Grenze geben, die Entscheidung muss akzeptiert werden, das Leben muss weitergehen.
Ein gutes Justizsystem gilt als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft. Die Tora betont, dass es Schoftim (Richter) und auch Schotrim (Schutzmänner) geben muss, das Äquivalent vielleicht zur modernen Polizei, den Hütern des Gesetzes, die den Täter ergreifen und Verbrechen aufklären.
Dies ist nicht die Aufgabe des Richters, der neutral und unabhängig bleiben und nur die Informationen berücksichtigen muss, die ihm sowohl vom Staatsanwalt als auch vom Verteidiger vorgelegt werden, um die Zeugen zu befragen und die Beweise abzuwägen.
Die Tora geht sogar so weit zu sagen (17,12), dass diejenigen, die sich weigern, das Rechtssystem zu akzeptieren, hingerichtet werden sollen: »So sollst du das Böse aus Israel wegschaffen.«
Ein Mensch, der einen Fall vor die Richter gebracht und dann gesehen hat, wie diese sich beeinflussen ließen, oder erlebt hat, wie sein Gegner sich weigert, die getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren und auszuführen, ist mehr als frustriert; er ist wütend, er hat kein Vertrauen mehr in das System, er wird zu einer Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft selbst. Eine solche Ungerechtigkeit zerstört eine Nation von innen heraus.
POLITIKER In den vergangenen Monaten haben wir mehrere Fälle erlebt, in denen führende Politiker, die es besser wissen müssten, versucht haben, das Gesetz zu umgehen oder Druck auf die Richter auszuüben. Hat irgendjemand das Recht zu glauben, er stehe über dem Gesetz? Sogar der König sollte ein Exemplar der Tora aufbewahren und konsultieren, um sich daran zu erinnern, dass er nur »ein König auf Erden« ist.
Im modernen Staat Israel haben wir gesehen, dass sogar ein Premierminister von unabhängigen Gerichten für schuldig befunden und zu einer Strafe verurteilt werden kann.
Dies sollte eine Warnung für alle führenden Politiker sein: Versuchen Sie nicht, das Gesetz zu Ihrem Vorteil zu ändern, um sich mehr Befugnisse oder längere Amtszeiten zu verschaffen! Denn es heißt: »Nach Gerechtigkeit, nur nach Gerechtigkeit sollst du streben, auf dass du am Leben bleibst und das Land in Besitz nimmst« (5. Buch Mose 16,20).
g Der Autor ist Assistenzrabbiner der egalitären liberalen Betergemeinschaft Gescher e.V. in Freiburg im Breisgau.
inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9