Ethik

Stille Triage

Im März 2020 in Brescia (Lombardei, Italien): Corona-Patienten in einem Triage-Raum im Krankenhaus Foto: picture alliance / Photoshot

So sehr sich zu Beginn der Corona-Pandemie noch alle einig waren, dass das Wichtigste und Stärkste in dieser Krise der Zusammenhalt unserer Gesellschaft sei, so sehr scheint sich diese nun aber doch kontinuierlich zu entsolidarisieren. Mit jeder Welle und jedem Bekanntwerden neuer Virusmutationen wird der Ton rauer.
Die sogenannte Corona-Leugner-Szene aus »Querdenkern«, Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern und anderen Feinden unserer Demokratie hat in den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einen vermeintlichen Grund entdeckt, sich mit dem Staat anzulegen, und lässt nichts unversucht, die Solidargemeinschaft zu sprengen. Auf Impfgegner-Demos wird in unseren Städten zum Widerstand gegen das System aufgerufen und der Staatsstreich geprobt.

Die Triage könnte bald in den Notaufnahmen und Intensivstationen Wirklichkeit werden.

Dass Politiker und Journalisten inzwischen dazu neigen, die Menschen in Gute und Böse einzuteilen, ist zumindest verständlich: Die Bösen sind die Impfskeptiker, Maskenverweigerer, Querdenker und Verschwörungstheoretiker; die Guten diejenigen, die verordnete Kontaktbeschränkungen einhalten und sich in den Warteschlangen vor den Impfzentren für ihre Booster-Impfung anstellen. Dadurch helfen sie schließlich, das Gesundheitssystem und die kritische Infrastruktur vor dem befürchteten Zusammenbruch zu bewahren.

Aber die Impfquote ist zu niedrig geblieben, und möglicherweise können die Impfstoffe nicht ganz das halten, was sie versprochen haben. Die vierte Welle und das Auftreten der Omikron-Variante konnten jedenfalls nicht verhindert werden, und die Lage in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen ist längst kritisch. Die Überlastung des Gesundheitssystems droht nicht, sie ist mit allen Folgen schon überall spürbare Realität.

PERSONALMANGEL Tausende Pflegekräfte haben in Deutschland ihren Beruf wegen der nicht nachlassenden Belastung im vergangenen Jahr aufgegeben oder sind von besonders belasteten Stationen in andere Bereiche gewechselt. Der Personalmangel ist in den Kliniken ein so drängendes Problem, dass inzwischen bis zu 30 Prozent der Intensivbetten und Beatmungskapazitäten wegen Personalmangels gar nicht zur Verfügung stehen.

Eine solche Begrenzung der Behandlungsmöglichkeiten durch Mittelknappheit zwingt Ärzte, nicht mehr ausschließlich patientenzentriert zu entscheiden, sondern auch die überindividuelle Perspektive zu betrachten. Die Angst vor dem Kollaps unseres solidarischen Gesundheitssystems ist also absolut berechtigt.

Die Triage, also die ärztliche Entscheidung darüber, wer bei unzureichend verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten behandelt wird und wer nicht, könnte tatsächlich sehr bald in unseren Notaufnahmen und Intensivstationen konkrete und unausweichliche Wirklichkeit werden. In einem gewissen Maße werden Triage-Entscheidungen sogar schon seit Monaten getroffen. Ärzte weichen bereits jetzt von rein patientenzentrierten Behandlungsentscheidungen ab, wenn dieser Tage etwa Tumoroperationen oder andere elektive Eingriffe wie Aneurysma-Operationen verschoben werden müssen, weil es nicht genügend Intensivkapazitäten gibt.

Operationen Es ist keine Polemik, wenn man dieses Vorgehen als stille Triage bezeichnet und darauf hinweist, dass verzögertes Operieren in etlichen Fällen die Heilungschancen verschlechtern kann. Schlimmstenfalls könnten irreversible Gesundheitsschädigungen oder gar vorzeitige Todesfälle die Folge aufgeschobener Operationen sein.

Dringend wird eine transparente und für alle verbindliche Klärung gefordert, an welchen Kriterien sich Ärzte bei den emotional und moralisch herausfordernden Triage-Entscheidungen orientieren müssen. Rufe werden laut, die Ärzte nicht alleinzulassen und im Vorfeld zu klären, in welchem rechtlichen Rahmen solche Entscheidungen zu treffen sind.

MISCHNA In der viel beschworenen jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes gilt das Leben als von nahezu absolutem Wert, und ein jedes menschliches Leben muss als höchstrangiges Rechtsgut den jeweils allerhöchsten Schutz erfahren. Gerechtigkeit ist dabei eine ebenso in der jüdischen Tradition wurzelnde Maxime unseres Werte- und Rechtssystems, heißt es doch in der Mischna, dass »deshalb nur ein einziger Mensch erschaffen worden ist, um dich zu lehren, dass wenn einer eine Person vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn einer eine Person rettet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt gerettet und wegen des Friedens, damit nicht ein Mensch zum anderen sage: Mein Ahn war größer als dein Ahn« (Sanhedrin 4,5).

Die Karlsruher Richter forderten gesetzlichen Schutz für behinderte Menschen.

Kein philosophisches oder religiöses Wertebegründungssystem betont deutlicher als die Halacha den unteilbaren Wert irdischen Lebens und verbietet so eindeutig, ein Leben gegen ein anderes aufzuwiegen. Weder verminderte Lebensqualität chronisch Kranker noch eingeschränkte Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung eines Menschen mit Behinderung oder die nur noch kurze Lebenserwartung eines hochbetagten Menschen vermindern den Wert ihres Lebens und könnten je als Begründung dafür dienen, der Rettung ihres Lebens die Rettung eines anderen vorzuziehen, wenn nur eines von beiden gerettet werden kann. Kein Leben ist wertvoller als ein anderes.

Angesichts der aktuellen Überlastung der Kliniken und drohender Engpässe bei der Zuteilung überlebenswichtiger Behandlungsressourcen fürchten außer Senioren auch Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen in der zunehmend antisolidarischen Haltung unserer Gesellschaft aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen, von vornherein aufgegeben zu werden.
Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen haben daher beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde eingereicht. Zu unsicher erschien es ihnen, sich allein auf die rechtlich nicht bindenden Handlungsempfehlungen der Fachgesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu verlassen.

Das Gericht teilte die Auffassung der Beschwerdeführer, stellte Ende Dezember fest, dass Behinderte im Fall einer Triage nicht ausreichend vor Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung geschützt seien, und forderte den Gesetzgeber vergangene Woche auf, unverzüglich gesetzliche Vorkehrungen zum Schutz Behinderter für den Fall der Triage zu treffen und die Gleichbehandlung aller zu garantieren. Keine Personengruppe darf bevorzugt, keine benachteiligt werden.
Juristisch, moralisch und halachisch wird es für die Triage nie gute Vorgaben geben können, außer solchen, die sie im Vorfeld verhindern. Es wird bei Triage-Entscheidungen immer nur schlechte und moralisch problematische Entscheidungen geben können.

PROGNOSE Trotzdem muss klargestellt werden, dass in einer konkreten Situation nur nach Bedürftigkeit und Überlebenschance, also der kurzfristigen Prognose entschieden werden darf, aber nicht von vornherein nach Alter, Sozialstatus, Behinderung, Vorerkrankung oder anderen Kriterien.

Da die niedrige Impfquote eine Ursache für die Notlage unserer Krankenhäuser ist, fordern nicht wenige, dass die dafür Verantwortlichen, also die Ungeimpften, für ihre Entscheidung gegen die Impfung zur Verantwortung gezogen werden und dass der Impfstatus ein Triage-Kriterium sein solle.

Tatsächlich sind aber die Gründe, warum jemand nicht geimpft ist, im Einzelnen sehr unterschiedlich. Nicht jeder ist gleich militanter Impfverweigerer und Verschwörungstheoretiker. Und selbst die dürfen aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes niemals in einer Triage-Situation wegen ihrer Impfverweigerung von einer Behandlung ausgeschlossen werden. Auch halachisch steht die Verpflichtung, Leben zu retten, über allem.

Antisolidarisches Verhalten mindert nicht den Wert eines Menschenlebens.

Antisolidarisches, kriminelles und gesundheitsschädigendes Verhalten mindern nicht den Wert des Lebens. Dem Raucher darf die Behandlung seines Lungenkrebses nicht vorenthalten werden. Dem Raser nicht die Notoperation, wenn er sich bei dem von ihm verschuldeten Verkehrsunfall lebensgefährliche Verletzungen zuzieht, und auch nicht dem Bankräuber, der beim Schusswechsel mit der Polizei angeschossen wurde.

Arzt Immer gilt: »Du sollst nicht still stehen beim Blute deines Nächsten« (3. Buch Mose 19,16). Der Arzt hat Leben zu retten und nicht über Verfehlungen zu urteilen oder Schuldige für irgendetwas zu bestrafen.

Außer zu hoffen, dass der Gesetzgeber nun eine kluge gesetzliche Regelung findet, müssen wir hoffen, dass die Omikron-Variante wirklich, wie es neuere Daten aus dem Ausland nahelegen, weniger gefährlich ist, als bislang angenommen, und sich die Situation in den Kliniken nicht weiter verschärft. Die Gesellschaft muss aber weiter darüber diskutieren, wie sie mit der Überlastung des Gesundheits­systems umgeht. Verursacher sind nicht nur die sogenannten Querdenker, sondern auch die Politiker, die es versäumt haben, wirklich etwas gegen den Pflegenotstand zu unternehmen.

Der Autor ist leitender Oberarzt am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.

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