Wir lesen im Talmudtraktat Chagiga 12b: »Weh den Geschöpfen, die sehen können, aber nicht wissen, was sie sehen; die stehen können, aber nicht wissen, worauf sie stehen.«
Mit diesen Klageworten leitet der Tannait Rabbi Jossi seine Abhandlung zum Aufbau des Himmels und der Erde ein. Oft hatten die talmudischen Weisen nämlich eine Expertise im Bereich der Astronomie entwickelt.
In Bezug auf die Bahnen der Gestirne äußerte sich der Amoräer Schmuel sogar wie folgt: »Die Pfade des Himmels sind mir ebenso gut bekannt wie die Pfade (meiner babylonischen Heimatstadt) Nehardea« (Berachot 58b).
KENNTNISSE Mit der Astronomie verband unsere Weisen zweierlei: Zunächst waren astronomische Kenntnisse nötig, um die kalendarischen Berechnungen durchzuführen, die das jüdische Jahr regelten. Dadurch wurde die biblische Norm erfüllt: »Lichter sollen durch die Atmosphäre durchscheinen, (…) zu Zeichen und Zeiten (zur Berechnung) von Tagen und Jahren« (1. Buch Mose 1,14).
Aus diesem Grund besaß auch Rabban Gamliel, wie die Mischna schreibt, »Abbildungen der Mondphasen auf einer Tafel an der Wand seines Obergemachs, die er (den Neumond vor dem Sanhedrin bezeugenden) Laien zu zeigen pflegte, um herauszufinden, ob sie eine solche oder eine solche Mondform gesichtet hätten« (Rosch Haschana 2,8).
Dementsprechend äußert sich Rabbi Jochanan: »Woher wissen wir, dass es eine Mizwa ist, Jahreszeiten und Sternenkonstellationen zu berechnen? Da es heißt: ›Sie ist eure Weisheit und Wissenschaft in den Augen der Völker‹ (5. Buch Mose 4,6). Welche Weisheit ist dort gemeint? Dies muss die Sternenkunde sein« (Schabbat 75a).
Wenn die Völker der Welt, etwa die Chaldäer Babyloniens und die Griechen, die Astronomie als die höchste Wissenschaft ansehen, dann – so Rabbi Jochanans Überlegung – müssen die Juden, das erwählte Priestervolk der Welt, diese sogar noch eifriger betreiben.
In diesem Sinne führt auch der spätere Midrasch Pirke de-Rabbi Elieser in drei langen Kapiteln (6–8) durch die Bahnen der Sonne, des Mondes, der weiteren fünf klassischen Planeten sowie durch die Stellung der Tierkreiszeichen, die von der Erde aus beobachtet werden können.
HALACHA Zu der halachischen Dimension der Beschäftigung mit den Himmelskörpern gesellte sich jedoch immer auch ein tiefer gehendes theologisches Interesse: In der poetischen Sprache des Tanach wird der Ewige oft »Haschem Zewaot«, der Herr der Heerscharen, genannt. Mit diesen Heerscharen sind einerseits die Engel gemeint, von denen »Myriaden über Myriaden vor Ihm stehen« (Daniel 7,10).
Doch in der antiken jüdischen Symbolik sind auch die Himmelskörper die »Heere« Gottes (etwa Schoftim 5,20). Die physischen Sterne sind dabei als materielle Abbilder jener höheren metaphysischen Diener Gottes gedacht. Daher wird auch das zur Heiligkeit aufgerufene Volk Israel mit den Sternen verglichen (1. Buch Mose 15,5) und in der Folge ebenfalls die »Heerschar« des Ewigen genannt (2. Buch Mose 7,4).
Da das Weltall also als physisches Ebenbild der oberen Welt verstanden wird (»Die Himmel sind mein Thron«, Jeschajahu 66,1), haben sich in der Tradition oft auch die astronomische Sternenbeobachtung mit der mystischen Gottesschau verbunden. In diesem Sinne ist das Studium der Astronomie auch eine Form des Gottesdienstes.
Bereits der Stammvater Awraham, der aus der sumerischen Stadt Ur stammte, die gegen Ende des 3. Jahrtausends v.d.Z. das weltweite Zentrum der Astronomie war, soll nach einigen Überlieferungen, wie etwa von Josephus (Jüdische Altertümer I,7,2), ein großer Astronom gewesen sein, den Gottes Offenbarung aus den astrologischen Irrtümern der heidnischen Priester rettete (Bereschit Rabba 44,12).
Und wie Awraham, der staunend vor der Weite des Kosmos stand und in Ehrfurcht den Ewigen anrief, kann das Studium der Sterne auch uns Bescheidenheit lehren, wie Schlomo spricht: »Denn die Himmel und auch die Himmel der Himmel könnten dich nicht fassen« (1. Melachim 8,27).
Talmudisches