Die Omerzeit ist, den jüdischen Mystikern zufolge, eine Gelegenheit, ganz besonders nach spiritueller Perfektion zu streben – aber nur Schritt für Schritt, jeden Tag ein bisschen mehr. Jede Woche und jeder Tag ist durch eine ganz bestimmte Eigenschaft gekennzeichnet, repräsentiert durch die »sieben Hirten« – Awraham, Jizchak, Jakow, Mosche, Aharon, Josef und David.
Jeder Tag bietet also Gelegenheit, an einer bestimmten Charaktereigenschaft zu arbeiten, aber immer in Kombination mit einer anderen. So machen wir uns am zweiten Tag der vierten Woche, dem 23. Tag der Omerzählung, den Charakter von Mosche (Nezach – Ewigkeit durch Lernen) in Bezug auf den von Jizchak (Gewura – spirituelle Stärke) bewusst. Dieser Tag ist wahrscheinlich die beste Gelegenheit zu zeigen, wie wir durch inneren Kampf gegen Ablenkungen in der Lage sind, uns mit unserer Tradition zu beschäftigen und darauf einzulassen.
Hohepriester Der 33. Tag der Omerzeit (mit den he-bräischen Buchstaben Lamed und Gimel als Zahlzeichen für 30 und 3, gelesen Lag), da-her Lag BaOmer, ist der fünfte Tag der fünften Woche. Der fünfte unserer sieben Hirten ist Aharon ha-Kohen, Bruder von Mosche und erster Hohepriester. An diesem Tag stehen daher sowohl Woche als auch Tag für dieselbe Person, sodass wir die spirituelle Kraft erhalten, den »Super-Aharon« in uns selbst zu verbessern.
Unsere Weisen lehren, dass Aharons Persönlichkeit von Schalom, von Frieden – innerem und äußerem – geprägt war. Aharon liebte den Frieden und strebte ihm beständig nach. Er tat alles in seiner Macht Stehende, um miteinander streitende Personen zu versöhnen und sicherzustellen, dass kein Hass die Harmonie im jüdischen Volk stört. Er besaß auch die Fähigkeit und Kraft zu innerer Harmonie.
Der Talmud sagt, dass Aharon in Bezug auf seine spirituellen Leistungen seinem Bruder Mosche gleich war, und er schöpfte sein Potenzial dazu vollständig aus. Trotzdem konnte er nie Erster sein. Die größte innere Stärke ist deshalb, unsere eigene Rolle in der Welt zu akzeptieren. Selbst wenn wir alles geben, aber »nur« Zweiter werden, sollen wir dabei trotzdem Harmonie finden. Das ist die Stärke Aharons. Er steht für vollständige Harmonie – und somit auch der 33. Tag der Omerzählung, der durch den Charakter von Aharon ha-Kohen gekennzeichnet ist.
Es ist daher kein Zufall, dass Lag BaOmer in den meisten jüdischen Gemeinden auf der Welt der Tag ist, an dem – nach langer Abwesenheit wegen der Trauer um die Studenten von Rabbi Akiva – Musik wieder als ein Teil unseres Lebens zurückkehrt, um unsere Seelen zu erheben, die von den alltäglichen Sorgen strapaziert sind.
Dieser Tag ist auch die Jahrzeit von Rabbi Schimon Bar Jochai, dem heiligen Tanna, der, entsprechend unserer Tradition, der Welt die mystischen Geheimnisse der Tora gezeigt hat. Unsere Weisen lehren, dass Rabbi Schimon seine Schüler vor seinem Tod bat, sie mögen sein Verlassen der körperlichen Welt freudig begehen. Dieses öffentliche Gedenken an einen verstorbenen heiligen Rabbiner nennt man Hilula.
Tripolis In vielen jüdischen Gemeinde auf der ganzen Welt werden in der Nacht von Lag BaOmer große Lagerfeuer entzündet, die das Feuer unserer Tradition repräsentieren und an die Kraft der mystischen Lehren erinnern – sehr oft mit Musik und religiöser Dichtung.
Eines dieser wunderschönen Meisterwerke für diese Nacht ist das Lied Bar Jochai. Geschrieben wurde es von Rabbi Schimon Lavi, dessen Name als Akrostichon in den Strophen des Liedes vorkommt. Er wurde in Spanien geboren und musste höchstwahrscheinlich wegen der Vertreibung der Juden im Jahr 1492 aus dem Land nach Fez in Marokko fliehen. Später ließ er sich in Tripolis nieder.
Das Lied erzählt von den Tugenden des Rabbi Schimon Bar Jochai, der unserer Tradition zufolge den Sohar, das Hauptwerk der Kabbala, verfasst hat. Jede der zehn Strophen des Liedes steht für eine der zehn Sefirot, mystische Sphären von Eigenschaften. Viele Gemeinden singen dieses Lied nicht nur unmittelbar nach der Omerzählung, sondern auch an normalen Schabbatot. Lag BaOmer, der Tag der Harmonie, soll uns anregen, dem inneren und äußeren Frieden beständig nachzustreben und die Harmonie in unserem Leben zu erkennen – vielleicht auch durch Musik.
Der Autor ist Rabbiner in Leipzig und Direktor des Instituts für Traditionelle Jüdische Liturgie des Rabbinerseminars zu Berlin.