»Du sollst lieben den Herrn, deinen Gʼtt.« Diese Woche lesen wir den Toraabschnitt Waʼetchanan, in dem wir uns unter anderem mit dem Schma Jisrael und dem Gebot, Gʼtt zu lieben, auseinandersetzen. Beides wird in der Parascha wiederholt.
Auf den ersten Blick erscheint dies äußerst skurril. Liebe ist ein Gefühl, und Gefühle sind eine sehr persönliche Angelegenheit. Wie kann man jemandem befehlen zu lieben? Und wie kann man jemanden auf Befehl lieben?
Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) deutet dies so, dass es hierbei um die Ausführung der Gebote geht. Raschi sagt: »Du sollst lieben den Herrn, deinen Gʼtt« bedeutet, die Gebote aus Liebe zu erfüllen.
PARALLELE Offensichtlich gibt es eine Parallele zwischen Liebe und Taten. Dies erinnert sehr an die »Fünf Sprachen der Liebe«, eine Theorie des amerikanischen Paartherapeuten Gary Chapman. Laut dieser Theorie gibt es fünf primäre Liebessprachen, die Menschen verwenden, um ihre Liebe zu empfinden und auszudrücken. Diese Sprachen sind: Worte der Bestätigung (Words of Affirmation); Zeit und Zuwendung (Quality Time); Zuneigung und körperliche Berührungen (Physical Touch); Hilfsbereitschaft und Dienst am anderen (Acts of Service) sowie Geschenke (Receiving Gifts).
Menschen fühlen sich geliebt, wenn ihnen durch praktisches Handeln geholfen wird. Der Liebende zeigt seine Fürsorge durch Taten und bringt damit seine Liebe zum Ausdruck. Dem wäre wohl auch das Gebot, Gʼtt zu lieben, zuzuordnen, denn wir tun dies durch das Ausüben von Mizwot, von Taten. Im Umkehrschluss fühlen wir Menschen die Fürsorge G’ttes.
Heißt das für uns also, dass wir verpflichtet sind, Ihn auf diese Art und Weise zu lieben, durch »Acts of Service«, durch Hilfsbereitschaft und Dienen?
Gʼtt geht weit über unser Verständnis menschlicher Eigenschaften, das er selbst geschaffen hat, hinaus. Er ist nicht mit den oben erwähnten Sprachen der Liebe zu erklären.
Darüber hinaus lassen sich die anderen Sprachen der Liebe ebenfalls in der jüdischen Tradition wiedererkennen: Symbolisch für die erste Art, die Worte der Bestätigung, ist das Gebet ein fundamentaler Bestandteil des Gʼttesdienstes. Dabei werden Liebe, Hingebung und Dankbarkeit zu Gʼtt zum Ausdruck gebracht. Die verschiedenen Segenssprüche und liturgischen Texte spiegeln die Liebessprache der Worte der Bestätigung wider.
Das Erfüllen der zahlreichen Mizwot, wie zum Beispiel das Halten des Schabbats, kann als Ausdruck der Hingabe an Gʼtt betrachtet werden. Und die bewusste Verwendung von Zeit für das Erfüllen der religiösen Pflichten ist eine Form der Liebessprache, der Zeit und Zuwendung.
CHERUBIM Liebe ist etwas sehr Persönliches. Wie wir gesehen haben, lässt sie sich auf verschiedenste Art und Weise zum Ausdruck bringen. Unser Wochenabschnitt hebt die besondere Bedeutung unserer Taten hervor, aber dies ist nicht die einzige Art, mit der wir Gʼtt unsere Liebe zeigen können.
Beschränkt sich der Wille Gʼttes nur auf das Erfüllen von Geboten? An einer anderen Stelle in der Tora, im Wochenabschnitt Teruma, der sich mit dem Aufbau des Stiftzelts beschäftigt, wird der Wille Gʼttes anhand der zwei Cherubim (engelsähnliche Figuren) erklärt. Das Besondere an diesen Figuren ist, dass sie einander gegenübergesetzt sind. Wenn das jüdische Volk den Willen Gʼttes erfüllt, dann schauen sie einander an. Wenn jedoch der Wille Gʼttes nicht erfüllt wird, dann drehen sich die Cherubim voneinander weg.
Unsere Weisen deuten dies so, dass es der Wille Gʼttes ist, dass wir als Volk einander gut behandeln und Nächstenliebe üben. Wenn wir uns voneinander abwenden und die Bedürfnisse anderer nicht mehr im Blick haben – also gegen den Willen Gʼttes handeln –, dann drehen sich auch die Cherubim voneinander weg. Wenn wir jedoch den anderen im Blick haben und aufeinander eingehen, schauen sich auch die Cherubim an, und der Wille Gʼttes ist erfüllt.
Anhand dieser sowie vieler anderer Stellen in der Tora wissen wir: Es ist G’ttes Wille, dass wir uns gegenseitig lieben, und so zieht sich die Nächstenliebe durch die gesamte Tora.
NÄCHSTENLIEBE Ich möchte dazu eine chassidische Geschichte erzählen. Sie handelt von Rabbiner Avraham Yehoshua Heschel, dem Apter Rov (1748–1825), der auch als »Ohev Yisroel« (Der die Juden liebt) bekannt ist. Diesen Beinamen verdankt er seiner Fähigkeit, die gesamte Tora auf ein und dieselbe Lehre zurückzuführen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Eines Tages, während einer Lektion des Ohev Yisroel, entschied sich einer seiner Schüler dazu, den Rabbi herauszufordern. Er bat ihn, für die Parascha Balak einen Zusammenhang zur Nächstenliebe herzustellen.
Der Rabbiner antwortet, dass es doch offensichtlich sei, dass »BaLaK« ein Akronym für »Veahavta Lereacha Kamocha«, das Gebot der Nächstenliebe, sei. (Dabei ist zu beachten, dass es sich bei dem Wort »Balak« zwar um Buchstaben mit denselben Lauten handelt, jedoch nicht um dieselben Buchstaben auf Hebräisch.)
Der Schüler ist verdutzt und weist den Ohev Yisroel darauf hin, dass das so nicht stimmt und »Balak« gar nicht das Akronym für »Veahavta« sein kann.
Der Ohev Yisroel schaut den Schüler an und sagt: »Wenn es um Nächstenliebe geht, darf man die Grammatik nicht zu genau nehmen!«
Was lernen wir daraus? Der Ohev Yisroel lehrt uns, wie wichtig die Einheit der Gemeinschaft im Judentum ist und dass man durchaus kompromissbereit sein muss, um zur Bildung und zum Erhalt der Gemeinschaft des jüdischen Volkes beizutragen.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
inhalt
Der Wochenabschnitt Wa’etchanan beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Aber auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu G’tt die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.
5. Buch Mose 3,23 – 7,11