Dass unsere menschliche Existenz untrennbar mit Leiden verbunden ist, bleibt oft eine Herausforderung für den Glauben an einen gerechten, gütigen und allmächtigen Schöpfer, und nicht selten mündet körperliches und psychisches Leiden in spirituelles Leiden. Im Talmud finden wir eine eindrucksvolle Geschichte, die von spirituellem Schmerz erzählt.
Rabbi Chija ben Abba litt schwer, und Rabbi Jochanan besuchte ihn und fragte: »Sind dir deine Qualen lieb?« Chija antwortete: »Weder sie selbst noch der Lohn, den sie mir bringen werden.« Dann bat er: »Reich mir deine Hand!« Rabbi Jocha-nan reichte sie ihm und richtete ihn auf.
Qualen Etwas später lesen wir, dass Rabbi Elieser Qualen litt und Rabbi Jochanan ihn besuchte. Da bemerkte Rabbi Jochanan, dass Rabbi Elieser weinte, und sprach zu ihm: »Warum weinst du? Ist es, weil du dich zu wenig mit der Tora befasst hast, so haben wir ja gelernt: ›Einerlei, ob man viel oder wenig tut, wenn man nur seine Gedanken auf den Himmel richtet.‹«
Rabbi Elieser antwortete ihm: »Ich weine darüber, dass diese Schönheit einst in der Erde modern soll.« Da sprach Rabbi Jochanan: »Darüber weinst du zu Recht.«
Sie weinten dann beide. Währenddessen fragte Jochanan: »Ist dir all das Leid lieb?« Elieser erwiderte: »Weder das Leid noch der Lohn für das Leiden.« Dann bat er: »Reich mir deine Hand!« Und Rabbi Jochanan reichte sie ihm und richtete ihn auf« (Berachot 5b).
Zuwendung Rabbi Jochanan begleitet den schwer kranken Rabbi Chija und stellt fest, dass theologische Konzepte, die das Leiden erklären und ihm einen Sinn geben wollen, Chija nicht helfen, seine qualvolle Situation zu ertragen. »Weder das Leid noch der Lohn für das Leid« sind ihm »lieb«. Was ihm hilft, ist empathische Zuwendung. Jochanans Fürsorge lindert das Leiden des Kranken und »richtet ihn wieder auf«.
Die Geschichte beschreibt eindrucksvoll den spirituellen Schmerz Eliesers, und wir erfahren viel über Jochanans Grundhaltung, die von Mitgefühl und Respekt vor der Würde des anderen geprägt ist. Jocha-nan fragt Elieser, warum er verzweifelt ist, und erfährt, dass es die Angst vor dem Tod ist. Elieser weint, weil der Tod mindestens seine diesseitige körperliche Existenz auslöschen und er die diesseitige Welt unwiederbringlich verlieren wird. Im Hoffen auf einen transzendenten Lohn findet er kaum Trost.
Jochanan trifft die Wurzel des spirituellen Schmerzes, der Elieser so quält und ihn radikal den Sinn in allem vermissen lässt. Er hat begriffen, dass der Tod kein erklärbares oder lösbares Problem ist und dass es keine überzeugenden und sinnbeweisenden Antworten geben kann. Indem Jochanan mit Elieser weint, lässt er sich ganz und gar auf dessen existenziellen Schmerz ein und schützt ihn mit seiner zugewandten Präsenz vor innerer und äußerer Isolation. Er zeigt sich als Mensch und »reicht ihm die Hand«. Das Dasein für den anderen »richtet ihn auf«.
Mitgefühl Auch wenn Rabbi Jochanan sehr viel früher lebte, folgte er in seinem Handeln dem Imperativ des großen jüdischen Denkers unserer Zeit, Emmanuel Lévinas (1906–1995). Er fordert uns auf, aus Mitgefühl und Respekt vor der Würde des anderen dessen Vorrang vor uns selbst anzuerkennen.
Lévinas, dessen Philosophie stark von seinen Erfahrungen während der Schoa geprägt ist, schrieb: »Die Sorge für den anderen siegt über die Sorge um sich selbst.«
Damit geht Lévinas über die Wiederentdeckung des Ich im Du im Sinne Martin Bubers hinaus und betont die schon im »Antlitz des anderen« geschehende Begegnung: »In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Befehl, als würde der Herr mit mir sprechen. (…) Dennoch ist das Antlitz des anderen zur gleichen Zeit entblößt – hier ist der Elende, für den ich alles tun kann und dem ich alles verdanke. Und ich, wer immer ich auch bin, aber ich als jemand, in der ersten Person, ich bin derjenige, der über die Mittel verfügt, um auf diesen Ruf zu antworten.«