»Wenn du in das Land kommst, das der Ewige, dein Gʼtt, dir gibt …«, so lauten die ersten Worte von Paraschat Ki Tawo. In unserem Wochenabschnitt weist Gʼtt sein Volk an, die Erstlingsfrüchte zum Tempel in Jerusalem zu bringen. Jeder Landwirt soll seine »Bikkurim« opfern: Weizen, Gerste, Trauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln.
Dabei soll er seine erste Ernte nicht einfach wortlos vor den Altar legen. Vielmehr soll er dazu eine öffentliche Erklärung abgeben: »Ich tue heute dem Ewigen kund, dass ich in das Land gekommen bin, das der Ewige unseren Vätern zugeschworen und uns gegeben hat« (5. Buch Mose 26,3).
Weiter soll er dann sprechen: »Was geheiligt ist, habe ich aus meinem Haus geschafft und es dem Leviten gegeben, dem Fremdling, den Waisen und der Witwe. Nach Deinem Gebot, das Du mir geboten hast. Ich habe Deine Gebote weder übergangen noch vergessen« (26,13). Dieses Gebot tritt sozusagen mit der Landnahme in Kraft.
WILDNIS Für die Israeliten muss es eine große Erleichterung gewesen sein, als sie hören, dass ihre lange Wanderung durch die Ödnis und Wildnis langsam, aber sicher zu Ende geht. Nach 40 Jahren in der Wüste steht das Volk an der Schwelle zum Gelobten Land. Die Heimatlosigkeit unserer Vorfahren geht zu Ende. Die Hebräer werden sesshaft.
Es fällt auf, dass hier der Levit erwähnt wird, der Fremdling, der Waise und die Witwe. Dies will uns den sozialen Auftrag des Erntedankfests vor Augen führen. Wenn der Landwirt des Heiligen Landes seine Felder, die Gʼtt ihm geschenkt hat, aberntet, so soll es für ihn selbstverständlich sein, die Leviten, die Fremden, die Waisen und die Witwen an seiner Ernte teilhaben zu lassen.
Denn die Leviten als Tempeldiener besitzen kein Land. Ebenso wenig der Fremde, also der Ausländer oder der Geflüchtete. Und dass Waisen und Witwen die Unterstützung der Gesellschaft und Allgemeinheit brauchen, versteht sich von selbst. Daher steht ihnen ein Anteil an jeder Ernte zu. Wohlweislich ist unsere Tora auch ein »Sozialgesetzbuch«.
wehrlose Die Tora warnt uns wiederholt davor, Wehrlose auszunutzen, und sie verpflichtet uns dazu, Bedürftigen und Schwächeren zu helfen. Deswegen erwähnt sie so oft die Armen, die Witwen und die Waisen. Denn an Menschen, die Unterstützung brauchen, mangelt es nie.
Wohltätigkeit, Zedaka, ist Gerechtigkeit und Güte in einem. Denn sie kommt unseren Mitmenschen zugute. Zum Spenden gehört, dass man keine Gegenleistung erwartet – und auch nicht erwarten kann. Die Zedaka ist also religiöse und soziale Gerechtigkeit in all ihren Formen. Zedaka ist ein aktives Handeln wie auch der Ausdruck einer inneren Haltung. Sie ist Inbegriff des jüdischen Ausgleichs und der jüdischen Gerechtigkeit.
Unentgeltlicher Einsatz für die Gemeinschaft gehört eng zu unserer jüdischen Tradition und Kultur, und die Zedaka ist gleichsam ein sozialer Kitt, der die Gesellschaft und Gemeinschaft zusammenhält, von der Geburt bis zum Tod.
VERSPRECHEN Unsere Parascha enthält ein Versprechen, dass der Gehorsam gegenüber Gʼtt belohnt wird, mit Schutz, Wohlstand sowie Segen für die eigene Familie und die kommenden Generationen.
Ungehorsam dem Allmächtigen gegenüber jedoch führt zur Bestrafung. Die Tora listet 98 Warnungen und Ermahnungen auf, die etwa die Hälfte unserer Parascha einnehmen. Diesen Abschnitt nennen wir Tochecha (Zurechtweisungen). Er ist voller Ermahnungen und Warnungen vor dem Verderben und der Zerstörung – damit das jüdische Volk nicht von den Wegen Gʼttes abweiche!
Die Verse drohen mit Vertreibung, Hunger, Raub und Folter – um nur einige zu nennen. Traditionell lesen wir die Tochecha im synagogalen Gʼttesdienst ganz leise, um Feinde und Widersacher nicht herauszufordern. Denn all die Katastrophen und Qualen könnten sie auf ungute Ideen bringen.
SCHOA Ich möchte von einer bewegenden Begebenheit erzählen und von Rabbiner Jekutiel Jehuda Halberstamm (1905–1994), dem Klausenburger Rebben aus Siebenbürgen in Rumänien. Seine Frau, seine elf Kinder und die meisten seiner Angehörigen wurden von den deutschen Nazis und ihren Helfern ermordet. Rabbiner Halberstamm selbst hat mehrere Konzentrationslager überlebt, und nach der Schoa ging er nach Amerika, nach New York, nach Brooklyn.
Dort hält er eines Tages in einem Krankenhaus einen Schabbatgʼttesdienst. Es war der Wochenabschnitt Ki Tawo an der Reihe. Die Beter, ein Minjan aus geschundenen Schoa-Überlebenden, ist gerade im Begriff, die Tochecha zu lesen. Der Ba’al Kore (Vorleser) beginnt wie gewohnt und üblich, am Lesepult die Verse des Unheils ganz leise vorzutragen. Da klopft der Rebbe auf sein Pult und ruft auf Jiddisch:
»Hejcher!« (»Lauter!«) Da blickt der Vorleser verwirrt von der Schriftrolle auf. Hat er ein bisschen zu leise gelesen? Er liest also weiter, jetzt mit lauterer Stimme. Aber der Rebbe ruft erneut: »Hejcher, lauter!« Das soll sich noch einmal wiederholen.
Da hält der verblüffte Vorleser an und schaut den Rebben unverwandt an. Und der Klausenburger Rebbe erklärt: »Wir müssen diese elenden und erbärmlichen Flüche nicht mehr leise lesen. Denn es gibt keinen Fluch, den wir nicht erlebt haben. Es gibt keinen Kummer, den wir nicht erlitten haben! Wir haben das alles erlebt. Lasst uns voller Stolz zu unserem Vater im Himmel rufen, dass wir bereits alle Flüche erhalten haben! Wir haben diese Flüche überlebt. Und nun ist es an Ihm, uns den Segen und die Erlösung zu bringen!«
Dann fährt der Vorleser fort, die Tochecha zu lesen. Laut und deutlich, als ob er eine Hymne auf die Zähigkeit und Widerstandskraft seines Volkes singen würde.
Ich denke so wie der Klausenburger Rebbe: Unsere Erlebnisse sollen mit Würde und Ehre berichtet werden. Als ein Zeichen für Mut und Tapferkeit. Wenn uns Unglück widerfährt, werden wir es überstehen und überwinden. Wir werden uns hinter dem Unglück nicht verstecken. Vielmehr wird das Unglück ein Zeugnis sein – für unseren jüdischen Glauben und für unser ewiges jüdisches Volk.
Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.
inhalt
Die Israeliten sollen aus Dankbarkeit für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte opfern. Und sie sollen die Gebote des Ewigen auf großen Steinen ausstellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8