Im Wochenabschnitt Wajikra spricht die Tora von den Sühnopfern, die eine Person bringt, nachdem sie gesündigt hat. Nach einer Auflistung verschiedener Vergehen sagt die Tora: »Wenn jemand sündigt (…) und sich einer dieser Vergehen schuldig gemacht hat, soll er bekennen, was er gesündigt hat. Er soll Haschem als sein Schuldopfer für seine Sünde, die er begangen hat, ein Weibchen vom Kleinvieh – ein Schaf oder eine Ziege – als Sündopfer bringen; und der Kohen (Priester) wird ihm Sühne gewähren für seine Sünden« (3. Buch Mose 5, 1–6).
Kann sich die Person, die gesündigt hat, dies nicht leisten, so darf ein alternatives Opfer dargebracht werden: »Wenn aber seine Mittel für ein Schaf oder eine Ziege nicht ausreichen, dann soll er als Schuldopfer für das, was er gesündigt hat, zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben für Haschem, eine als Sündopfer und eine als Olah-Opfer (Ganzopfer) bringen« (5,7). Auf diese Weise wird einem armen Menschen eine Erleichterung gewährt – er muss kein teures Tier als Sündopfer bringen, er darf Tauben opfern. Wenn ein Tier mitgebracht wird, dient es als einziges Sündopfer, wenn jedoch Vögel gebracht werden, bringt der Sünder eine doppelte Sühne – ein Sündopfer und ein Olah-Opfer.
Die Sühne für eine Sünde erfordert ein Sühnopfer
Die Sühne für eine Sünde erfordert ein Sühnopfer, kein Olah-Opfer – wie aus der Anforderung deutlich wird: ein einziges weibliches Schaf oder eine einzige Ziege (für jemanden, der es sich leisten kann). Wir verstehen, dass jemand, der sich das Tieropfer nicht leisten kann, ersatzweise ein Vogelopfer darbringen kann. Warum aber müssen zwei Opfer dargebracht werden – eines als Sündopfer und eines als Olah-Opfer?
Abraham Ibn Esra (1089–1167) bietet eine interessante Erklärung: Die meisten Menschen, die ein Sündopfer bringen, können sich ein Lamm leisten. Die Person der zweiten Kategorie ist leider ein Armer. Er kann sich kein Lamm leisten. Was geht ihm durch den Kopf? Warum tut mir der Allmächtige das an? Alle anderen können sich ein Lamm leisten, und ich kann mir kein Lamm leisten! Ich bin so arm, dass ich nicht einmal ein anständiges Sündopfer kaufen kann. Bin ich denn schlechter als alle anderen? Kurzum: Er hat also »böse Gedanken« (Machschava ra’a).
Dieses allein für sich – seine Beschwerden gegen den Allmächtigen – ist eine eigenständige Sünde, die eine zusätzliche Sühne erfordert. Eine Person, die »mit ihren Gedanken sündigt«, muss ein Olah-Opfer als Sühne bringen. Er bringt die erste Taube als Sündopfer für die erste Sünde. Die zweite Taube bringt er jedoch als das Olah-Opfer, und zwar für die negativen Gedanken, die er hatte, indem er sich bei Gʼtt darüber beklagte, dass er sich kein Tieropfer leisten kann.
Rabbi Chaim Joseph David Azulai, der Chida (1724–1806), zitiert in seinem Werk Pnej David die Erklärung von Ibn Esra, wirft jedoch eine Frage darauf. In der Tora gibt es tatsächlich drei Ebenen hinsichtlich der Darbringung eines Sündopfers. Wie oben erwähnt, gibt es die Person, die es sich leisten kann, ein optimales Sündopfer zu bringen – ein Lamm. Dann gibt es jemanden, der sich kein Lamm leisten kann. Er muss die beiden Tauben bringen, eine als Sündopfer und eine als Olah-Opfer.
Die Ärmsten unter den Armen
Aber dann gibt es noch eine dritte Gruppe: die Ärmsten unter den Armen. Deshalb sagt die Tora: »Wenn seine Mittel aber nicht für zwei Turteltauben oder für zwei junge Tauben reichen, so soll er als Schuldopfer für das, was er gesündigt hat, ein Zehntel Epha feinsten Mehls als Sündopfer bringen; er soll kein Öl oder Weihrauch darauf legen, denn es ist ein Sündopfer« (3. Buch Mose 5,11). Der »Ärmste der Armen« bringt also ein Mehlopfer dar, was sich so ziemlich jeder leisten kann.
Der Chida stellt im Pnej David die naheliegende Frage: Warum muss nicht auch der Ärmste ein Olah-Opfer bringen? Wenn derjenige, der sich kein Lamm, sondern nur Vögel leisten kann, Beschwerden gegen den Allmächtigen hat, die eine Verpflichtung auslösen, eine Olah zu bringen, dann muss ein extrem armer Mensch, der sich nicht einmal Vogelopfer leisten kann, sicherlich ebenfalls Bitterkeit gegenüber dem Allmächtigen hegen für seine Not im Leben, sodass auch er die zusätzliche Sühne eines Olah-Opfers benötigen sollte.
Der Pnej David antwortet, dass der Allmächtige dem »Ärmsten unter den Armen« Nachsicht entgegenbringt, wenn er sich über seine extreme Armut beschwert. Gʼtt sagt: »Ich habe Verständnis für seine Notlage und die daraus resultierenden Beschwerden. Ich werde von ihm nicht noch zusätzlich die Sühne eines Olah-Opfers verlangen.«
Wenn jemand solche Schmerzen hat, macht ihn der Allmächtige nicht für das verantwortlich, was er denkt oder sagt. Angesichts seiner schlimmen Lage lässt man ihm etwas Spielraum, was die Gedanken angeht, die ihm durch den Kopf gehen, und die Worte, die aus seinem Mund kommen.
Der Ewige hat Verständnis
Die Weisen des Talmuds sagen über Ijov (Hiob): »Eine Person wird nicht zur Verantwortung gezogen (für das, was sie sagt), wenn sie (extremen) Schmerz erleidet« (Bava Batra 16b). Ebenso sagt der Pnej David, dass der arme Mensch, der Vogelopfer (anstelle eines größeren Tieres) bringen muss, negative Gedanken über seine Armut hat und dafür Sühne braucht. Der Allmächtige hat jedoch Erbarmen mit einer völlig mittellosen Person, die sich nicht einmal Vögel leisten kann, sich über Gʼtt beschwert und wütend auf Ihn ist. Der Ewige hat Verständnis für die Situation einer so armen Person und bittet nicht um Wiedergutmachung für solch verständliche Gefühle des Grolls und der Beschwerde.
Der Nowominsker Rebbe, Rav Elischa Horowitz aus Long Island, nutzt diese Idee in Sefer Bej Chija, um einen Vers in Tehillim zu erklären: »Erinnere dich nicht an die Sünden der Väter (vorangegangene Sünden, Avonot Rischonim) gegen uns; mögen deine Barmherzigkeiten uns schnell entgegenkommen, denn wir sind äußerst verarmt« (Tehillim 79,8).
Er interpretiert die Worte König Davids so: Bitte rechne uns nicht die Avonot Rischoniman an – die Tatsache, dass wir in der Vergangenheit böse Gedanken gegen den Allmächtigen hatten – deine Barmherzigkeit sollte die Erinnerung an diese Sünden bezwingen. Warum? Weil wir so arm sind! Wir sind wie die Ärmsten unter den Armen. So wie du den Ärmsten unter den Armen nicht für die zusätzliche Sünde ein Olah-Opfer für ihre sündigen Gedanken auferlegst, so ziehe bitte auch uns nicht zur Rechenschaft!
Im Talmud (Sota) steht, dass wir in den Wegen Gʼttes wandeln sollen, indem wir Seine Taten nachahmen. Genauso wie Er mit den Armen und Leidenden nachsichtig ist und ihre Vergehen verzeiht, sollen auch wir das tun.
Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
inhalt
Der Wochenabschnitt Wajikra steht am Anfang des gleichnamigen dritten Buches der Tora und enthält Anweisungen dazu, wie, wo und von welchen Tieren die verschiedenen Opfer dargebracht werden sollen. Es werden fünf Arten unterschieden: das Brand-, das Schuld-, das Friedens- und das Sündenopfer sowie verschiedene Arten von Speiseopfern.
3. Buch Mose 1,1 – 5,26