Israel

Sorge um die Sicherheit

Wanderwege, Aussichtspunkte, Wiesen, Wälder: Har Gilboa ist ein Höhenzug im nördlichen Israel. Das Naturreservat ist viel besucht, vor allem im Frühling, wenn alles in Blüte steht. Auch jetzt im November ist es eine Idylle. Eine trügerische Idylle.

»Wir dachten, wir leben hier in der Schweiz. Aber jetzt wissen wir: Wir sind im Nahen Osten«, beschreibt Uri Gamson die Situation, die sich auch hier in der Region am 7. Oktober drastisch verändert hat. Gamson ist Rabbiner der Gemeinschaftssiedlung Nurit. Er wohnt mit seiner Familie seit ein paar Jahren am Fuße der Gilboa-Berge. Von 2010 bis 2015 leitete er die Yeshiva Gedola von Chabad Berlin.

Die Region im unteren Galiläa, in der Nähe der Stadt Afula, galt bis zum »Schwarzen Schabbat« als relativ sicher. Nur vereinzelt gab oder gibt es Schuss­attacken, diese Zwischenfälle schaffen es aber nicht einmal in die Nachrichten. Auch versuchten Hamas-nahe Terrorgruppen aus Dschenin bereits, Raketen auf die umliegenden Siedlungen in der Gilboa-Region abzufeuern. Dennoch ist die Lage nicht vergleichbar mit der 50 Kilometer weiter nördlich, an der Grenze zum Libanon, wo es immer wieder Kampfhandlungen gibt und viele Bewohner evakuiert wurden.

Seit Wochen gibt es Einsätze der Armee, bei denen Terroristen festgenommen oder getötet werden

Nurit liegt etwa zwei Kilometer vom Trennzaun zum Westjordanland entfernt, im israelischen Kernland. Hinter dem Zaun sind schon die Häuser von Dschenin zu sehen, einer palästinensischen Stadt, die als Terrorhochburg gilt. Seit Wochen gibt es dort immer wieder Einsätze der israelischen Armee, bei denen Terroristen festgenommen oder in Kämpfen getötet werden und deren Terrorinfrastruktur zerstört wird.
»Ansonsten hatten wir hier keinen Raketenalarm, weder aufgrund von Beschuss der Hamas aus dem Süden noch von der Hisbollah im Norden. Dennoch sind nach dem 7. Oktober alle verunsichert«, schildert Rabbiner Gamson die Situation. »Fenster und Türen, die sonst immer offen standen, werden verriegelt. Jeder schaut auf der Straße hinter sich, alle sind wachsam.«

Nurit wurde vor neun Jahren gegründet. Derzeit leben etwa 90 Familien hier, es sollen einmal 350 werden. Zehn Neubauten sind im Entstehen. In den Einfamilienhäusern wohnen Geschäftsleute, Zollbeamte, Sozialarbeiter. Einige haben auch Fremdenzimmer in ihren Häusern eingerichtet. Die stehen jetzt leer. Touristen kommen nicht. Dafür können sich dort jetzt die seit Kriegsbeginn in der Siedlung stationieren Soldaten frisch machen. Auch kümmern sich die Bewohner darum, dass die Wäsche der Soldaten gewaschen wird, versorgen sie mit Essen und haben sogar schon ein gemeinsames Barbecue veranstaltet.

Die Soldaten patrouillieren in der Siedlung, bewachen das Eingangstor. Überall wurden die Sicherheitsvorkehrungen hochgefahren, so gut es ging. Ein Zivilschutz wurde schnell einberufen, die Männer gehen in drei Schichten Wache, immer zwei gemeinsam. Auch Rabbiner Gamson ist mit dabei. Jetzt noch ohne Waffe. Aber er hat sich bereits als Freiwilliger beim Grenzschutz gemeldet, will dort den Umgang mit der Waffe lernen. Ob er sich vorgestellt hat, eines Tages zur Verteidigung ein Gewehr in die Hand nehmen zu müssen? »Bis zum 7. Oktober nicht. Auch jetzt habe ich noch Respekt davor. Aber ich habe keine Wahl.«

Auch in anderer Hinsicht sorgt Rabbiner Gamson für die Sicherheit in der Siedlung. Die kleine Synagoge wurde geschlossen, da sie über keinen Schutzraum verfügt. Sofort hat er die Gebete von dort in sein Wohnzimmer verlegt, Plastikstühle für die Beter aufgestellt. »Hier ist der sicherste Ort in Nurit«, meint er. »Wir haben eine Sefer Tora, einen Schutzraum, und wir haben Waffen.«

Rabbiner Gamson konnte sich bis zum 7. Oktober nicht vorstellen, zur Waffe zu greifen

Er ist davon überzeugt, dass man in Deutschland nicht versteht, in welcher Realität die Menschen in Israel leben. »Sie haben keine Vorstellung davon. Als ich zwölf Jahre alt war, lernte ich im Golfkrieg, mir Atropin ins Bein zu spritzen, für den Fall eines Chemiewaffenangriffs. Kein Kind in Berlin muss das lernen.« Jetzt mit den Herausforderungen dieses Krieges zu leben, ist besonders auch als Familienvater dreier Kinder herausfordernd: »Wenn sie malen und man sich ihre Bilder dann anschaut: alles voller Panzer und Araber mit Waffen in der Hand.«
Ronen Shlomo ist für die Sicherheit in Nurit zuständig. Er meint: »So viel unterscheidet sich unsere Lage nicht von der in der Nähe des Gazastreifens. Dschenin ist nur wenige Kilometer entfernt. Wenn unsere Feinde könnten, würden sie Ähnliches auch bei uns versuchen.«

Insofern sei der 7. Oktober auch eine Art Weckruf gewesen: »Auf der einen Seite leben wir in der westlichen Welt, zum Beispiel, was Wirtschaft und Bildung betrifft. Im Hinblick auf Sicherheitsfragen sind wir in der nahöstlichen Umgebung. Das, was geschehen ist, hat uns die Augen geöffnet.« Jetzt gelte es, den Ort besser zu schützen. Doch für weitere notwendige Maßnahmen fehlt das Geld, beklagt Shalev Shedo, der Bürgermeister von Nurit. Er musste schon akzeptieren, dass die bereits zugesagten Mittel für den geplanten Bau von Sportplätzen oder die Anlage von Fahrradwegen aufgrund der aktuellen Lage gestrichen wurden. »Dann bitte ich wenigstens um 100.000 Schekel für Kameras, um meine Einwohner zu schützen. Auch da bekomme ich nur Kopfschütteln«, sagt Shedo.

Die Siedlung sei in hoher Alarmbereitschaft. »Auch bei uns kann etwas geschehen. Es gibt andauernd Warnungen.« Einige Bewohner wurden zusätzlich mit Waffen ausgestattet. Sicherheitswesten und Helme wurden verteilt. Wachen nachts und tagsüber wurden eingerichtet, zudem eine besondere Bewachung des Eingangstors und des Kindergartens. Jede Aktivität in der Siedlung wird von Sicherheitsleuten beschützt.« Die Situation hat sich komplett verändert. Und das in jeder Hinsicht«, gibt sich Shedo nachdenklich. Er betreibt in Afula ein paar Festsäle und Läden. »Seit dem 7. Oktober ist das Geschäft von einem auf den anderen Tag eingebrochen. Keiner will mehr feiern, keiner kann sich etwas leisten. Ich persönlich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

Ein paar Kilome­ter weiter, auf der anderen Seite der Gilboa-Berge, liegt Meital. Hier sind noch keine schmucken Einfamilienhäuser zu sehen wie in Nurit. Im Moment leben die 14 Familien in Mobilhäusern. Es ist ein religiös-säkulares Siedlungsprojekt. In unmittelbarer Nähe werden massive Wohnhäuser gebaut. Zahlreiche weitere Familien sollen sich hier einmal niederlassen.

In dem kleinen Ort Nurit wurden nachts und tagsüber Wachen eingerichtet

Dana Petrover (33) lebt bereits seit drei Jahren hier in diesem Provisorium. Sie läuft barfuß durch die Siedlung, hält dabei die elf Monate alte Tochter Nigun auf dem Arm. Derzeit ist sie hier allein mit ihren vier Kindern, ihr Mann ist als Reservist der Panzerbrigade im Gazastreifen im Einsatz. Gleich am zweiten Tag des Krieges war sie für zwei Wochen mit den Kindern bei Verwandten untergebracht, aber ist wieder zurückgekehrt. »Das ist schließlich unser Zuhause, unsere Gemeinschaft, wir wollen nicht woanders sein.«

Sie macht sich schon ab und zu Gedanken über die Sicherheit in Meital. »Wir glauben an Natur, an Gemeinschaft«, es sei ein besonderes Projekt. Aber da im Moment acht Männer beim Reservedienst der Armee sind, müssen die Frauen noch einiges mehr leisten als sonst. »Wir sind stark. Und wir unterstützen einander.«

Fühlen sie sich manchmal wie die Pioniere vor der Staatsgründung, die mit der Waffe in der Hand ihre Siedlungen schützten? Dana Petrover winkt ab. »Nein, so denken wir nicht. Aber wir haben schon das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein – und dass sich das alles mal in den Geschichtsbüchern finden wird.«

Rabbiner Gamson nickt zustimmend: »Es scheint auch für Juden in Berlin, New York oder Paris derzeit sicherer zu sein. Und wenn es hier nicht sicher ist, hat die gesamte jüdische Welt ein Problem.« Dies sei nicht nur ein Krieg für Israel, sondern auch »der Unabhängigkeitskampf des jüdischen Volkes«.

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