An Sukkot werden an den beiden ersten Tagen zwei Torarollen ausgehoben. Aus der zweiten liest man jeweils nur fünf Sätze: über das Darbringen der Opfer zu Zeiten des Jerusalemer Tempels (4. Buch Mose 29, 12–16). Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels, also seit mehr als 1950 Jahren, werden diese Sätze in der Synagoge vorgelesen.
Normalerweise werden die Sätze heruntergerattert, ohne besondere Inbrunst: »Und ihr bringt ein Emporopfer, eine Feuerhingebung zum Willfahrungsausdruck Gott nahe; junge Stiere 13, Widder zwei, jährige Schafe 14, in ihrer Ganzheit seien sie« (29,13). Wer des Hebräischen nicht mächtig ist, darf sich trösten: Auch in der deutschen Übersetzung wird nicht alles klar, zumindest in der von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888).
Jüdisches Leben geht nur einher mit einer distanzierten Fürsorge für die Nichtjuden.
Greifen wir darum einen Aspekt aus der Aufzählung heraus und schauen uns die Stiere an. Am ersten Tag von Sukkot werden 13 geschlachtet, am zweiten zwölf, am dritten elf, am siebten und letzten Tag sieben Stiere. Insgesamt also 70.
SINNSPRUCH Im Talmud (Sukka 55b) gibt es einen hübschen Sinnspruch: Die 70 Stiere, die an Sukkot im Heiligtum geopfert werden, stehen sinnbildlich für die 70 Völker der Erde.
Die damaligen Juden traten also jedes Jahr an Sukkot vor Gott und baten ihn um Vergebung für die damals 70 bekannten Völker.
In der hebräischen Liturgie ist das ein spannender Einzelfall. Eine Fürbitte für andere Völker kommt im jüdischen Gebetbuch selten vor. Ein zweites Beispiel ist das Gebet für das Vaterland. Es wird in vielen Gemeinden an den Schabbatot und an Feiertagen vorgetragen.
Dass aber ausgerechnet und ausschließlich an Sukkot 70 Stiere für die anderen Völker dargebracht wurden, kommt nicht von ungefähr.
Warum sollen Juden für die Nichtjuden beten?
Kein anderer jüdischer Feiertag zwingt den Juden zum Bekenntnis. Machen wir einen kurzen Rundgang: An Chanukka brennen die Lichter in der Wohnung, an Purim lesen wir die Megilla in der Synagoge. An Pessach essen wir Mazzot am Familientisch. Schawuot kennt keine öffentliche Symbolik. An Rosch Haschana und Jom Kippur verbringen wir den Tag im Gebet. Nur an Sukkot gehen wir raus. Die Laubhütte steht im Garten, gut sichtbar für die Nichtjuden.
Es geht sogar noch weiter: Dass viele Juden als (religiöse) Juden erkannt werden wollen, ist selbst erdacht. Weder die Kopfbedeckung noch die Schaufäden müssten so getragen werden, dass sie auffallen. Es bleibt dabei: Der einzige Moment im jüdischen Jahr, der uns nach draußen zwingt, findet an Sukkot statt.
Niemand hat das so gut getroffen wie der deutsch-jüdische Maler Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882). In seinem Zyklus »Bilder aus dem altjüdischen Familienleben« sticht das Bild des Laubhüttenfests hervor.
Zwei nichtjüdische Schuljungen lugen neugierig in die offene Sukka, die Magd trägt die dampfende Suppe hinein. Von alledem lässt sich der Vater nicht stören und sagt den Segenspruch über den Wein.
MODE In den vergangenen Jahren ist es Mode geworden, Sukkot im Ausland zu feiern. In den Jahren vor Corona warben Veranstalter für All-Inclusive-Ferien in Italien, Griechenland und natürlich Israel: Einchecken, Lulav schütteln, Essen in der Hotel-Sukka, Auschecken.
Positives ergibt sich nicht aus der Corona-Tragödie. Aber vielleicht zwingt uns die Epidemie zu einem Innehalten, das uns wieder in die vernünftige Bahn bringt.
Vor allem betrifft dies die jüdischen Gemeinden außerhalb Israels. Wer religiös ist und sich mitten in der Gesellschaft bewegt, weiß: Das Aushalten ist verdammt schwierig. Wie weit soll ich mein gelebtes Judentum offenbaren? Wie nahe soll ich meinen nichtjüdischen Kollegen kommen?
HAUSVERWALTUNG Aber warum sollen Juden für die Nichtjuden beten? Oder Tiere schlachten? Weil alles zusammenhängt.
Im Garten die Sukka aufzustellen, geht nur, wenn einem die Hausverwaltung wohlgesinnt ist und keine Antisemiten in der Nachbarschaft wohnen.
Die jüdische Erlösung oder, etwas tiefer gehalten, jüdisches Leben geht nur einher mit einer distanzierten Fürsorge für die Nichtjuden.
Die Garantie auf friedliches Leben hängt mit der Koexistenz zwischen Juden und Nichtjuden zusammen.
Ich glaube, das lässt sich auch in der Gematria, der jüdischen Zahlenmystik, lesen: Das hebräische Wort »Parim« (Stiere) hat den Zahlenwert von 330. Addiert man 70, also die Völker der Erde, ergibt das 400.
Und diese Zahl steht für das Versprechen Gottes, die Juden Ägyptens nicht zu lange in der Diaspora schmoren zu lassen. 400 Jahre wurden es dann doch nicht, die Juden wurden früher durch Mosche erlöst.
Das gilt auch für heute. Die Garantie auf friedliches Leben hängt mit der viel beschworenen Koexistenz zwischen Juden und Nichtjuden zusammen: Wenn wir für die Nichtjuden beten, verringern sie uns die Zeit in der Galut, der Diaspora.
Der Autor ist Schweizer Journalist und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.