Pro: Rabbiner Raphael Evers sagt: »In der Corona-Pandemie steht der Schutz des Lebens über allem.«
Unlängst bekam ich die Mitteilung: »Traurigerweise ist die Machpela-Höhle (die Höhle der Patriarchen und Matriarchen in Hebron) heute Abend geschlossen. Um Mitternacht beginnt der dritte landesweite Lockdown in Israel für die nächsten zwei Wochen. Wir beteten für die Gesundheit und Sicherheit unserer Freunde auf der ganzen Welt am Eingang zum Garten Eden.«
Das hat mich emotional sehr berührt. Aber was bedeutet das für die G’ttesdienste in unseren Synagogen? Sollten auch wir das Heiligste aufgeben, um weniger Risiken einzugehen und unser Leben besser zu schützen? Ich erinnere mein Publikum immer daran, dass wir als Gläubige laut der Tora zwei Hauptaufgaben haben, die beide verbal sind: beten und die Tora lernen. Gleichzeitig sagt dieselbe Tora an mehreren Stellen, dass das Leben durch das Wort »sehr« geschützt ist: »Achte sehr gut auf deine Seele« (5. Buch Mose 4,15). Das Judentum hat großen Respekt vor dem Leben im Diesseits. Wir denken nicht allzu viel darüber nach, wie schön es im Jenseits sein wird oder wie wunderbar das Leben vor der Geburt war.
Im Judentum geht es um das Hier und Jetzt.
regel Eine wichtige Regel ist auch bei uns die lateinische Redewendung »mens sana in corpore sano« – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wenn wir krank sind, können wir auch religiös nicht richtig funktionieren. Das bedeutet nicht, dass wir jeden Tag im Fitnessstudio auf dem Laufband sein müssen, aber zumindest, dass wir jede Form von Gefahr aktiv vermeiden sollten. Der Talmud erklärt ausdrücklich, dass »Gefahr ernster genommen werden sollte als ein Verbot der Tora«.
Obwohl ich für die vorübergehende Schließung von Synagogen bin, ist diese Situation für mich als Rabbiner sehr schwierig. Wir haben viele »Follower«, und Glaubensgemeinschaften dienen sicherlich auch anderen als Beispiel. Manchmal bedeutet dies, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Sollten wir das als Glaubensgemeinschaft auch jetzt tun?
Ich bin mir sicher, dass dies nicht nur unsere Aufgabe, sondern unser Privileg ist. Gleichzeitig haben wir aber auch eine individuelle Verantwortung – und gleichzeitig die individuelle Freiheit, zu entscheiden, was wir wollen. Sollten wir also die Synagogen auch am Schabbat – unserem heiligsten Tag – schließen? Aber die entscheidende Frage ist doch: Stimmt es, dass ein G’ttesdienst das Infektionsrisiko erhöht?
Mindestabstand Die Bundesregierung ist auch in der Corona-Pandemie dem Recht auf öffentliche Religionsausübung verpflichtet. Wir können also in die Synagoge gehen, aber sollten wir von diesem Recht Gebrauch machen? Natürlich sind die Bedingungen streng: Der Mindestabstand wird auch innerhalb der Synagoge eingehalten, Masken bleiben obligatorisch, wir dürfen nicht singen und müssen uns vorab mit Name, Adresse, E-Mail und Telefonnummer anmelden. Und es wird nur eine begrenzte Anzahl von Personen zugelassen.
Mir ist vollkommen bewusst, dass wir gerade in dieser Zeit der Einsamkeit, Unsicherheit und Angst auf Einheit, Zusammengehörigkeit und gegenseitige Unterstützung angewiesen sind. Aber ist alles, was erlaubt ist, auch immer sinnvoll? Nein! Alle maßgeblichen medizinischen Experten sind derzeit sehr klar in ihrer Botschaft: Alle Kontakte müssen auf ein absolutes Minimum beschränkt werden.
Jedes Treffen, das nicht stattfindet, ist eine gute Sache. Daraus folgt das Gebot, alles zu unterlassen, was das Infektionsrisiko erhöht. Deshalb schließen Schulen und Geschäfte. Daher dürfen Menschen keine Konzerte, Museen oder Theater besuchen.
Die Frage, ob G’ttesdienste abgesagt werden sollen, hängt ebenfalls von der Einschätzung der medizinischen Experten ab. Alles läuft doch auf die Frage hinaus, ob der G’ttesdienstbesuch ein Risiko für die Besucher der Synagoge ist oder nicht. Und die Antwort scheint mir eindeutig: Man sollte Situationen vermeiden, die zur Übertragung des gefährlichen Coronavirus führen und Menschen in Lebensgefahr bringen könnten – das gilt sicherlich für die Risikogruppen, zu denen gerade viele der älteren Beter gehören.
Halacha Ich folge in meiner Ansicht Rabbiner Oscher Weis aus Bnei Brak. Eines der Axiome der Halacha ist doch das Vertrauen auf wissenschaftliche und medizinische Daten und die Meinung von Wissenschaftlern und Ärzten in ihren Fachgebieten. Die Halacha leitet uns sogar an, wie wir vorgehen sollen, wenn Experten sich nicht einig sind; sie schreibt vor, dass wir der Mehrheit oder der Meinung der meisten Experten folgen.
Die Antwort auf die Frage, ob Synagogen geschlossen werden sollen, basiert auf einer Abwägung der Risiken. Jede Gemeinde muss dies für sich selbst entscheiden. Aber ich unterstütze die Entscheidung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, die Synagoge einige Wochen geschlossen zu lassen. Möge es G’ttes Wille sein, uns von Unglück zu befreien. Möge G’tt allen Kranken eine Refua Schlema, die vollständige Heilung, schicken!
Rabbiner Raphael Evers ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan am Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen
Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).
Contra: Rabbiner Andreas Nachama sagt: »Gerade jetzt bedarf die Seele des Trostes – auch in der Synagoge«
Ich erzähle jedem Barmizwa und jeder Batmizwa die Geschichte von dem Prinzen, der mit einer Karawane durch die Wüste reist und schrecklich durstig ist. Wie gute jüdische Eltern wollen der besorgte König und die Mutter natürlich, dass das Kind sofort etwas zu trinken bekommt. Sie beschließen, einen Brunnen graben zu lassen, und man findet eine Quelle. Als die Karawane am Ende der Wüste ankommt, bringt sie ein Schild an, um anderen Reisenden zu zeigen, wo auf der Hälfte der Strecke ein Brunnen zu finden ist.
Die Bar- oder Batmizwa ist ein solches Schild. Wann immer eines Menschen Seele dürstet, wo immer er auf der Welt ist, gibt es eine Synagoge in der Nähe und somit auch einen Weg, die schmachtende Seele mit Jüdischkeit zu laben. Aber wie sieht es heute aus? Als vom 22. März bis Anfang Mai die Synagogen (wie auch Kirchen und Moscheen) geschlossen bleiben mussten, war diese Quelle für die Seelen der von der Epidemie betroffenen Menschen, wie aller anderen Kranken, Bedürftigen und Trauernden, verschlossen.
www Schabbes, Pessach – alles geschlossen. Ja, wir haben Videos ins Netz gestellt, haben viele Telefonate, dann auch Skype- oder später »Zoom«-Treffen gemacht, um Menschen zu treffen. Aber das, was ich meinen Barmizwa-Jungen oder Batmizwa-Mädchen über Jahrzehnte hinweg empfohlen habe – »Wann immer du ein Problem hast oder einer Freude jüdischen Ausdruck verleihen willst, geh in eine Synagoge« –, diese Quelle zum Laben der Seele war plötzlich verstopft. Ich fand und finde das unerträglich.
Dann kam die Zeit der Öffnungen mit »Hygienekonzepten«: Der Zentralrat der Juden hat mit den zuständigen Ministerien und in Absprache mit den beiden Rabbinerkonferenzen ein Hygienekonzept für Synagogen erarbeitet: Jeder Betende hält einen Abstand von mindestens 1,5 Meter. Daraus ergibt sich, dass zum Beispiel eine Synagoge mit 200 Sitzplätzen plötzlich nur noch circa 30 Beter aufnehmen kann. Kein Oneg Schabbat, keine Kidduschim. Jeder, der zum Beten kommt, muss sich anmelden beziehungsweise seine Anschrift hinterlassen und bekommt einen dokumentierten Sitzplatz zugewiesen.
Wenn – was Gott verhüten möge – eine Person doch infiziert wäre, geht nicht der ganze Minjan in Quarantäne, sondern die, die in der Nähe saßen. Es wird so wenig wie möglich Bewegung in die Beterschaft gebracht, es wird so gut wie nichts angefasst: Die Alijot beschränken sich darauf, dass die aufgerufene Person die Bracha vom Platz aus spricht, es wird nicht mitgesungen, es werden keine Gebetbücher, keine Talejssim, keine Kippot ausgeliehen. Gottesdienste werden auf 60 Minuten begrenzt. Zu Jom Kippur haben wir jeweils nach einer Stunde des Betens eine Stunde gelüftet. Ja, das ist auch nicht die sprudelnde Quelle, die ich vor Augen habe, wenn ich die Synagoge als eine Quelle des Labsals für die Seele darstelle. Aber doch – Majim chajim, lebendiges Wasser, ist da, Jüdischkeit entsteht, wenn auch vielleicht nicht so intensiv wie sonst.
Alijot Wir lesen nur den Text von fünf Alijot, wir verzichten darauf, zwischen den Alijot die Übersetzung des Lesungstextes und ein paar Erklärungen zu geben, und auch die Gebete sind gekürzt, aber wir beten gemeinsam an jedem Erew Schabbes und Scharachit Schabbes und Jontef. Das ist vielleicht wie in der Wüste: wenig Wasser, aber doch kein Verdursten.
Ja, ein Ziel aller Corona-Maßnahmen ist Pikuach Nefesch, Lebensrettung durch Kontaktminimierung. Das Virus lebt von menschlichen Kontakten. Aber wir halten Distanz. Es kommen nicht mehr als 30 Personen, und sie machen etwas, was ich sonst furchtbar fände: Sie halten Abstand, sie geben einander nicht die Hand, umarmen sich nicht, gehen geordnet mit Abstand wieder heim – und doch: Wir haben uns gesehen, und wir beten gemeinsam. Die wenigen tun es auch für die vielen, die nicht kommen können oder wollen. Aber die, die nicht kommen, rufen mich an und/oder spenden für unsere Synagoge und sagen mir, wie gut sie es finden, dass wir auch für sie beten.
Als wir während des ersten Lockdowns Videos in der Synagoge produzierten, die Schabbatgebete beinhalteten, fehlte nicht nur das Amen der Gemeinde, sondern die Gemeinschaft. Wir alle kennen die im Talmud geschilderte Situation: Betet einer allein, füllt er einen Kubikmeter gottgefüllten Raumes, beten zwei, hat jeder schon eineinhalb Kubikmeter, denn er partizipiert an der Hälfte des gottgefüllten Raumes des Zweiten. Wir alle kennen die Heiligkeit, die von einer bis auf den letzten Platz gefüllten Synagoge am Kol Nidre ausgeht. Sie ist durch nichts zu ersetzen.
Aber auch ein Minjan füllt unsere Synagoge(n), ein doppelter füllt sie zum Quadrat und … Es ist und bleibt wunderbar, dass wir Hygienekonzepte haben, die es uns ermöglichen, gemeinsam – wenn auch im kleinen Kreis –, dann doch für alle zu beten. Hoffen wir, beten wir, dass es bald wieder eine Gemeinschaft ohne Hygienekonzepte geben kann, weil das Virus besiegt ist. Wajomer – darauf lasst uns sagen: Amen!
Rabbiner Andreas Nachama amtiert als Rabbiner in der liberalen Synagogengemeinde Sukkat Schalom in Berlin und ist Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK).