Ist der Mensch frei? Oder ist unsere Freiheit nur eine Illusion? Haben wir unsere Entscheidungen selbst getroffen, oder sind wir die Sklaven unserer Umstände? Die Tora fordert: »Wähle das Leben!« (5. Buch Mose 30,19). In diesem Vers lässt sich erkennen, dass die Tora an die Wahlfreiheit des Menschen glaubt.
Trotzdem heißt es in den Sprüchen der Väter: »Alles ist von G’tt vorhergesehen« (3,19). Die Allwissenheit G’ttes, auch bezüglich der Zukunft, ist laut Maimonides (1138–1204) ein Glaubensartikel des Judentums.
Freiheit Doch dies scheint widersprüchlich zu sein. Wenn G’tt schon immer wusste, dass Sie diesen Artikel lesen werden, gab es dann jemals die Möglichkeit, ihn nicht zu lesen? Im Laufe der Geschichte haben viele Rabbiner versucht, den Widerspruch zwischen freier Wahl und Vorhersehung zu beantworten.
Vielleicht liegt das Gefühl der Freiheit darin, loszulassen.
Alle Antworten lassen sich zwei Kategorien zuordnen. Die einen gehen von einem Mysterium aus, während die anderen dies ablehnen. So ist eine mögliche Antwort: G’tt weiß, was wir tun werden, mischt sich aber nicht ein. Er ist ein passiver Beobachter der aktiven menschlichen Entscheidungen. Diese Meinung wird vor allem von mittelalterlichen, rationalistisch geprägten Rabbinern vertreten. Sie verneint, typisch für den Rationalismus, die Möglichkeit des Mysteriums.
Spätere, mystisch geprägte Gelehrte vertreten die Meinung, dass G’ttes Wissen für den Verlauf der Dinge bindend ist. Wenn der Schöpfer etwas weiß, dann ist dies bereits die Realität, und dementsprechend existierte nie eine andere Option.
Mystiker Trotzdem gibt es eine freie Wahl, denn die Tora fordert uns nicht umsonst auf, richtig zu wählen. Dieser Sachverhalt ist für den menschlichen Geist nicht aufzulösen und bleibt, so die Mystiker, ein Mysterium. So schreibt der chassidische Meister Rabbi Nachman aus Bratzlaw (1772–1810), dass es unauflösbare Widersprüche gibt, die dem menschlichen Geist erst nach der Ankunft des Messias zugänglich werden. Die Frage nach der freien Wahl ist wohl eine von ihnen.
Das Konzept der freien Wahl ist eng im Denken der Menschheit verwurzelt. Wir gehen davon aus, dass wir die Zügel in der Hand haben. Wir wählen den Weg zum Erfolg – oder den entgegengesetzten Weg.
Doch die Wissenschaft sieht dieses Konzept immer kritischer. Der Neurobiologe Robert Sapolsky sieht im menschlichen Verhalten ein Produkt der genetischen Veranlagung, Erziehung und einer Vielzahl anderer Faktoren. Jede einzelne Bewegung des Menschen ist das Resultat aus einem Zusammenspiel von Kausalitäten, die bis zum Anfang der Zeit zurückverfolgt werden könnten. Jede Handlung eines jeden Menschen ist die natürliche Reaktion des Gehirns auf die derzeitigen Umstände. Dieses ständige und automatische Zusammenspiel von Gehirn und Zufall ist die Geschichte unseres Lebens.
Wahl Die Philosophen ringen mit der Frage nach der freien Wahl – das Judentum lebt von der Idee der freien Wahl. Ohne den Menschen, der sich aus einer völligen Freiheit heraus für die Liebe entscheidet, macht die Schöpfung keinen Sinn. Der absolute Konsens ist: Der Mensch hat die freie Wahl. Es scheint aber komplizierter zu sein, als man sich vorstellen mag. Komplizierter, als der menschliche Verstand zurzeit fassen kann.
Vielleicht ist es tatsächlich so, dass unser Leben ein natürliches Produkt des Zusammenspiels zwischen unserem Gehirn und den Umständen ist. Wir reagieren instinktiv, auch dann, wenn wir meinen, bewusst zu entscheiden. Wir erfreuen uns der Erfolge und schämen uns für die Misserfolge, auch wenn all diese ein natürliches Produkt der immerwährenden Kausalitäten sind. Wir glauben, dass wir unser Leben leben, doch eigentlich werden wir von unserem Leben gelebt.
Das Leben lebt mich.
Vielleicht liegt das Gefühl der Freiheit darin, loszulassen und sich dem natürlichen Lebenslauf zu stellen: mehr zuzusehen, wie sich das Leben entwickelt, wie es uns formt, wie wir auf die verschiedenen Situationen reagieren und wie wir uns dabei fühlen. Vielleicht liegt die Freiheit darin, ein Beobachter des Lernprozesses zu werden, der sich Leben nennt. Wir wären frei vom Druck und würden die Freiheit in der Unfreiheit finden. Beruhigt in der Akzeptanz dessen, dass wir hier auf Erden vor allem erleben und der Prozess des Entscheidens von allein passiert.
Dieser Gedanke kann befriedigend und befreiend sein, aber auch furchterregend und bedrückend. Das Leben lebt mich. Ich bin in jedem Moment des Geschehens der Beobachter eines Systems, das, ausgehend von unzähligen Faktoren, auf die zufälligen Umstände reagiert. Haben Moral, das Gute, die Liebe noch einen Platz in einer Welt ohne Wahl?
GEBET Als der chassidische Rabbiner Natan aus Bratzlaw (1780–1844) seinen bereits erwähnten Lehrer Rabbi Nachman nach dem Mysterium der freien Wahl fragte, bekam er eine interessante Antwort. Rabbi Nachman sagte, er könne diese Frage nicht beantworten, aber man müsse beten. Was meinte er damit? Ich denke, er wollte damit sagen, dass nur das Gebet, als Ausdruck des tiefsten menschlichen Willens, wirklich frei ist. Der Wille aber ist die Essenz. König David sagt: »Ich bin das Gebet« (Psalm 109,4).
Der Schöpfer gibt uns die Wahl, die Geschichte zu beeinflussen.
König David betet nicht, nein, er ist das Gebet, obwohl er ein großer König und Gelehrter ist. Er weiß, dass all diese Dinge nur Umstände sind. Seine Essenz ist der Wille, dieser Wille wird im Gebet ausgedrückt. Wir sind, was wir wollen. Wollen wir das Gute, flehen wir zum Schöpfer um das Gute, so sind wir gut, auch wenn wir uns dabei entdecken, Böses getan zu haben. Wollen wir das Böse, schreit unsere Seele nach dem Bösen, dann haben wir den Bezug zu unserem wahren Selbst verloren.
Gutes Alle Umstände, mit denen wir konfrontiert werden, sind laut dem Judentum einzig und allein in der Hand des ewigen, allmächtigen und allwissenden Schöpfers.
Jeder Umstand, egal wie schmerzhaft, wird letztendlich zum Guten führen, denn die Geschichte aller Umstände wird von der barmherzigsten aller Hände, der Hand des Schöpfers, geschrieben. Dennoch gibt der Schöpfer uns die Wahl – die Wahl zu wollen, zu beten und damit den Lauf der Geschichte zu beeinflussen.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.