Kennen Sie Nachmanides? Rabbi Moshe ben Nachman (1194–1270) ist die jüdische Sex-Koryphäe schlechthin. Seinen letzten großen Auftritt hatte er 1983 neben Barbra Streisand in meinem Lieblingsfim Yentl. Sie erinnern sich: Barbra steht, als Talmudschüler verkleidet, bleich wie Käse unterm Traubaldachin, und von allen Seiten flüstert man ihr Rabbi Nachmans saftige erotische Tipps für eine gelungene Hochzeitsnacht zu. Genüsslich wird dabei aus Nachmanides’ heiligem Brief Iggeret Hakodesch zitiert, was sich ungefähr so anhört wie eine Do-it-yourself-Anleitung zum Drehen eines Softpornos. Und das ist völlig okay so, denn Rabbi Nachman betrachtet Sex als spirituellen Akt, als Teilhabe an der Erschaffung der Welt und direkte Eintrittskarte in die Wohnung G’ttes.
Der Rabbi steht mit dieser Ansicht nicht allein da. Viele seiner Kollegen vor ihm hatten bereits im Talmud und der Mischna eine ganze Menge zum Thema Sex zu sagen. Zum Beispiel, dass nicht der Mann, sondern die Frau es ist, die ein absolutes Grundrecht auf Sex hat. (Die beiden anderen Grundrechte sind übrigens Nahrung und ein Dach über dem Kopf.) Weiterhin haben die Rabbinen befunden, dass der Mann verpflichtet ist, die Frau regelmäßig zu befriedigen. Der Talmud liefert hier sogar eine hilfreiche tabellarische Aufstellung der empfohlenen Häufigkeit des Sexaktes, je nachdem, wie stark der Mann be- ruflich eingebunden ist.
reinheit Wir dürfen also schlussfolgern: Sex ist aus Sicht des Judentums keine Sünde, sondern – im Gegenteil – eine Mizwa. Die Ehe als exklusive Sexualunion wird als heilig angesehen. Wer heiratet, dem werden Sünden vergeben, und nur der verheiratete Mann kann wirklich das Stadium der rituellen Reinheit für sich beanspruchen.
Warum gibt sich das Judentum so sinnenfreudig, während das Christentum, vor allem die katholische Kirche, Enthaltsamkeit predigt? Ist das Zölibat ein Grund dafür, dass es immer wieder zum Missbrauch von Schutzbefohlenen kommt? Oder hat die sexuelle Revolution der 68er den katholischen Klerus auf Abwege gebracht? Vielleicht ist es schlichtweg das Böse im Menschen, das zu solchen Taten führt. Auch die jüdische Gemeinschaft kennt solche Fälle.
obsession Der US-Bestsellerautor Gary Thomas untersucht in seinem Buch Sacred Sex die unterschiedliche Sexualethik in Christentum und Judentum. Er stellt fest: Jede Religion hat ihr eigenes Leitmotiv, um nicht zu sagen, ihre Obsession. Im Judentum wäre das zum Beispiel die Erhaltung der jüdischen Spezies. Eine Religion, die sich die Fortpflanzung gewissermaßen auf die Fahnen geschrieben hat, so Thomas, kann ihren Anhängern natürlich nur schwerlich eine verklemmte Sexualethik liefern.
Ganz anders sieht es beim Christentum aus. Sein zentrales Thema ist das Konzept des reinen, von allem Irdischen losgelösten Glaubens. Klar, dass Team A (Judentum) bessere Karten hat als Team B (Christentum), wenn es um die Frage nach der Position von Sex im religiösen Gefüge geht.
Trotzdem: Die Religion, die ihren Anhängern zum Thema Sex ein aufmunterndes »Anything goes« zuruft, muss erst noch erfunden werden. Ganz egal, wie offen eine Religion damit umgeht, sie wird immer auch versuchen, die Triebe zumindest irgendwie zu kanalisieren und zu kontrollieren. Denn Sex als ziellose, uferlose, und – sprechen wir es ruhig aus – entfesselte Aktivität stellt ganz universell eine Gefahr dar für die Religion als stabiles System von Vorschriften, Gesetzen und Bräuchen.
bonuspunkte Wie die religiöse Kontrolle über sexuelle Aktivitäten letzten Endes gehandhabt wird, variiert von Religion zu Religion und von Mensch zu Mensch. Man kann die Hardcore-Taktik einschlagen und versuchen, die Triebe zu unterdrücken, zu verdrängen oder vollständig abzutöten. Man kann andererseits einfach versuchen zu akzeptieren, dass der Mensch als solcher immer sündenbeladen bleibt und sich bemühen, in anderen Bereichen Bonuspunkte zu sammeln.
Oder man entscheidet sich – wie in der jüdischen Religion möglich – für die sanfte Kontrollmethode. Hier hat das Judentum, wie ich finde, ein sehr sympathisches Programm des zyklischen Reinigens erfunden: Solange wir einmal im Monat in die Mikwe steigen, ist alles erlaubt. Wir halten uns nicht für Sünder, wenn wir – innerhalb der Ehe! – jeden Sexrekord brechen. Denn wem im eigenen Bett jede Freiheit zugestanden wird, der kommt auch nicht auf dumme Gedanken.