Omerzeit

Sieben Wochen zählen

In den Tagen vor Schawuot beten wir für eine gute Ernte – und trauern um den Verlust des Tempels

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  13.04.2015 20:57 Uhr

Am 50. Tag der Omerzählung, an Schawuot, sind die sieben Wochen der Trauerzeit beendet. Foto: Thinkstock

In den Tagen vor Schawuot beten wir für eine gute Ernte – und trauern um den Verlust des Tempels

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  13.04.2015 20:57 Uhr

Die Omerzählung ist eine positive Mizwa aus der Tora. Wir finden sie im 3. Buch Mose 23, 10–16. Das Gebot steht am Ende der ausführlichen Beschreibung eines Getreideopfers: »Sage den Israeliten und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land kommt, das ich euch geben werde, und es aberntet, so sollt ihr die erste Garbe (Hebräisch: ›Omer‹) eurer Ernte zum Priester bringen. Der soll die Garbe als Schwingopfer schwingen vor dem Herrn, dass sie euch wohlgefällig mache. Das soll aber der Priester tun am Tage nach dem Schabbat.«

Und darauf folgt die Anweisung, die bis heute als Omerzählung bekannt ist: »Danach sollt ihr zählen vom Tage nach dem Schabbat, da ihr die Garbe als Schwingopfer darbrachtet, sieben ganze Wochen. Bis zu dem Tag nach dem siebenten Schabbat, nämlich 50 Tage, sollt ihr zählen und dann dem Herrn ein neues Speisopfer darbringen.«

Am zweiten Abend des Pessachfestes, in der Diaspora am zweiten Sederabend, dem 16. Nissan, beginnt die Zählung. Wir zählen insgesamt sieben Wochen – 49 Tage. Am 50. Tag feiern wir Schawuot. Von dieser Sieben-Wochen-Zählung (Schawua bedeutet auf Hebräisch Woche) hat das Fest übrigens seinen Namen.

Das Wort »Omer« bedeutet wörtlich übersetzt »abgeschnittene Ähren« und bezeichnet ein antikes Hohl- beziehungsweise Getreidemaß, das etwa vier Liter umfasst.

zeremonie Am Abend des ersten Pessachtages, während seines Ausgangs, kam das Volk Israel mit seinen Führern nach Jerusalem. Dort haben sie im Tempel während einer feierlichen Zeremonie die aus dem Land Jehuda mitgebrachte Erstlingsgabe (Omer) gedroschen und die Körner gemahlen.

Nachdem das Mehl 13 verschiedene Siebe passiert hatte und mit Öl und Weihrauch vermischt war, wurde es über den Altar geschwenkt. Mit dieser am 17. Nissan vollzogenen Handlung war dem Volk Israel erlaubt, sich von der neuen Ernte zu ernähren. Vorher durfte kein Israelit etwas von den Gaben der neuen Ernte verzehren. Dieses Verbot nennt man issur-chadasch.

Unsere Weisen schreiben, dass Gott zu Pessach das Urteil über die Ernte der Welt fällt. Im Babylonischen Talmud (Traktat Rosch Haschana, Kapitel 16) heißt es: »Gott wandte sich an das Volk Israel und sagte: ›Bringt mir die Erstlingsernte, damit ich die Ernte auf den Feldern für euch sichten kann.‹«

Diese Aussage markiert den Beginn der Frühlingszeit, in der das Getreide – zuerst die Gerste – reif wird und die Ernte beginnen kann. Mit dem Verlust des Tempels ist jedoch der Ritus des Omerschwingens für uns hinfällig geworden, und damit bleibt auch der verbindliche »Startschuss« aus, sich der geernteten Gaben bedienen zu dürfen.

Sekte Das in der Tora genannte Datum »am nächsten Tag nach dem Schabbat« hat in der Zeit des Zweiten Tempels heftige Diskussionen hervorgerufen. Auf der einen Seite argumentierten die Beitussim. Ihr Name leitet sich von einem gewissen Beitus, einem Schüler Antigonos Isch Sochos, ab. Sie bildeten zur Zeit des Zweiten Tempels eine jüdische Sekte, standen den Saduzzäern nahe und lehnten die mündliche Tora ab – wie auch viele andere Prinzipien der Rabbinen, zum Beispiel Belohnung und Strafe sowie die Auferstehung der Toten.

Nach ihrer Meinung handelt es sich bei dem »nächsten Tag nach dem Schabbat« um den ersten Tag der Woche. Daher sollte nach ihrer Theorie die Zeit für das zu erbringende Speiseopfer immer auf den ersten Tag der Woche festgelegt werden. Im Gegensatz zu den Beitussim erklärten die Pharisäer, die die mündliche Tora akzeptierten, dass mit dem im Text genannten Schabbat der erste Feiertag von Pessach gemeint ist, nämlich der 15. Nissan. Dieser sei wie ein herkömmlicher Schabbat – und alle Feiertage des Jahres – durch das Verbot zu arbeiten charakterisiert.

Aber aus welchem Grund wurde das Gebot für das »Omerzählen« überhaupt erteilt? Zum einen soll es uns daran erinnern, dass das Getreide zwischen Pessach und Schawuot reif wird und wir um eine reiche Ernte beten. Daher heißt diese Zählung »Zählung der Garben«, die wir einsammeln.

Feldarbeit Zum anderen wohnte man in diesem Zeitraum außerhalb seines Hauses, war also unablässig auf dem Feld beschäftigt. So vermutet man, dass es im Arbeitseifer leicht dazu kommen konnte, den Termin von Schawuot zu vergessen. Wenn aber der Arbeiter die Tage zählte, dann wusste er genau, wann der 50. Tag nahte, und er konnte sich rechtzeitig auf den Weg nach Jerusalem machen, um dort die Erstlingsgabe darzubringen.

Das Datum von Schawuot ist also abhängig von der Zählung der vorhergehenden Tage. Es konnte auf den 5., 6. oder den 7. Siwan fallen. Deshalb bestand in der Zeit des Zweiten Tempels die Gefahr, dass die Verbindung des Wochenfestes mit der Toraübergabe verloren ging, denn diese geschah an einem bestimmten Tag am Sinai, und ihre Datierung konnte von daher nicht variabel sein.

Um diesem Missstand zu begegnen, wurde nach der Zerstörung des Tempels und der Erfindung des Kalenders durch Hillel II. das Wochenfest durch Rabbinerentscheid auf den 6. Siwan festgelegt. Damit diente das Omerzählen auch als Vorbereitung für den Empfang der Tora. Die Kabbalisten des 16. Jahrhunderts entwickelten diese Idee der Verbindung zwischen der Omerzählung und dem Empfang der Tora weiter.

empfang So wie eine Frau, nachdem sie ihre Regel hatte, sieben Tage zählt und am achten rein wird, so hatten die Israeliten sieben Wochen – 49 Tage – gezählt, um in diesem Zeitraum aus den 49 unreinen Toren Ägyptens auszuziehen, also sich von der Unreinheit ihrer Bedrücker zu reinigen, um am 50. Tag für den Empfang der Tora am Sinai rein und aufnahmefähig zu sein.

Die Tora befiehlt, sieben volle Wochen zu zählen. Ein voller Tag beginnt am Abend zuvor. So kann vom Aufgang der Sterne durch die ganze Nacht hindurch bis zur Morgendämmerung Omer gezählt werden. Derjenige, der vergessen hat zu zählen, kann am nächsten Tag zählen, aber ohne den Segen dabei zu sprechen. Das gilt auch für alle weiteren Tage, an denen das Zählen vergessen wurde.

Nach der Zerstörung des Tempels, dessen Neubau wir ersehnen, sind diese Tage zwischen Pessach und Schawuot als Trauertage in der jüdischen Geschichte zu betrachten. Es ist daher Brauch, dass wir in diesem Zeitraum keine Hochzeiten feiern, uns nicht rasieren und uns nicht die Haare schneiden lassen.

Im zwölften Jahrhundert entschied der französische Rabbiner Zerachja ha Levi Gerondi, dass man das Zeitgebet (schehechijanu) nicht nach der Omerzählung aussprechen soll, weil es keine Erneuerungen gibt und es sich um eine Zeit der Trauer handelt. Zudem besteht keine Möglichkeit mehr, das Omer zum Tempel nach Jerusalem zu bringen.

Bar Kochba Einen weiteren Grund zur Trauer sehen wir in dem fehlgeschlagenen Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer, der im Jahre 132 n.d.Z., 62 Jahre nach der Zerstörung des Tempels, zwischen Pessach und Schawuot stattfand. Rabbi Akiva meinte, in Bar Kochba den Messias zu erkennen. Aus dem Babylonischen Talmud (Jewamot 62,2) erfahren wir, dass 24.000 seiner Schüler in diesem Krieg gefallen sind.

Eine andere Erklärung sagt, dass die Schüler Akivas schlecht übereinander redeten (Laschon hara) und dafür mit einer Epidemie bestraft wurden, an deren Folgen sie starben.

Am 33. Tag der Omerzählung, dem Lag BaOmer, hörte die Epidemie auf. Deshalb sind an diesem Tag, dem 18. Ijar, als einzigem Datum in der Omerzeit Hochzeiten erlaubt.

Es gab noch andere traurige Ereignisse in der Omerzeit. Dazu zählen unter anderem die Kreuzzüge (1096–1146), in denen wahllos jüdische Gemeinden zerstört und Juden in Europa verbrannt und ermordet wurden, außerdem die Schlacht im Jahre 1648–49, die durch Bogdan Chmelnizki in der Ukraine und Polen angeführt wurde und der fast 700 Gemeinden zum Opfer fielen. Auch der Aufstand im Warschauer Ghetto, der am 19. April 1943 begann, fällt in diese Zeit.

Doch am 50. Tag der Omerzählung, an Schawuot, sind die sieben Wochen der Trauerzeit beendet. Nach Schawuot kann die jüdische Welt zu ihrer Alltagsroutine zurückkehren.

Der Autor ist Rabbiner des Egalitären Minjans in Hamburg.

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