In Israel folgt Simchat Tora direkt auf die sieben Feiertage von Sukkot, fällt also mit Schemini Azeret zusammen. In der Diaspora wird Simchat Tora einen Tag nach Schemini Azeret, am 23. Tag des Monats Tischri, gefeiert. Simchat Tora, die »Torafreude«, ist – wie der Name schon sagt – der Tag, an dem wir uns an der Tora freuen.
An diesem Tag werden die Fünf Bücher Mose in den Synagogen zu Ende gelesen – und die Lesung beginnt am gleichen Tag wieder von vorne.
segnungen Zuerst lesen wir im letzten Wochenabschnitt der Tora über die Segnungen, die Mosche jedem der zwölf Stämme Israels vor seinem Tod gegeben hat (5. Buch Mose 33, 1–25).
Anschließend lesen wir, wie Mosche den Berg Newo besteigt, von dessen Gipfel er das Gelobte Land sieht: »Und der Ewige sprach zu ihm: Dies ist das Land, das Ich Awraham, Jizchak und Jakow zugeschworen habe: ›Deinem Samen will Ich es geben!‹ Ich habe es dich schauen lassen mit deinen Augen, aber dort hinüber sollst du nicht kommen. Dann starb Mosche, der Knecht des Ewigen, im Land Moab (...), und niemand kennt sein Grab bis auf den heutigen Tag« (5. Buch Mose 34, 4–5).
Am Ende des 5. Buches Mose heißt es: »Es stand aber in Israel kein G’ttbegeisterter mehr auf wie Mosche, den der Ewige erkannte von Angesicht zu Angesicht für all die Zeichen und die Wahrbeweise, dass ihn der Ewige sandte, sie zu tun im Land Mizraim, (....) und für all die starke Hand und all den gewaltigen Schrecken, die Mosche wirkte vor den Augen von ganz Israel« (5. Buch Mose 34, 10–12).
Und sofort, nachdem wir den letzten Satz in der Tora beendet haben, beginnen wir wieder von vorne mit dem Wochenabschnitt Bereschit, dem Beginn des 1. Buches Mose: »Am Anfang schuf G’tt Himmel und Erde.« Doch obwohl Simchat Tora heute als Bestandteil beziehungsweise als direkte Fortsetzung von Schemini Azeret gilt und aus keiner jüdischen Gemeinde weltweit mehr wegzudenken ist, war dieser Brauch nicht immer verbreitet.
Wochenabschnitte Die Ursprünge führen in die Zeit des Babylonischen Exils zurück, wo Simchat Tora die Vollendung des Lesezyklus der Torawochenabschnitte darstellte.
Genauso, wie es heute allgemeiner Brauch ist, war die Tora auch damals in 54 separate Wochenabschnitte aufgeteilt, und jede Woche wurde ein (manchmal auch zwei) Wochenabschnitt(e) am Schabbat in der Synagoge gelesen. Somit wurde die gesamte Tora jedes Jahr aufs Neue »beendet«.
In Eretz Israel hingegen wurde die Tora alle drei Jahre beziehungsweise alle dreieinhalb Jahre zu Ende gelesen. Aus diesem Grund hatte Simchat Tora in Israel während dieser Zeit kein festes Datum. Man veranstaltete immer dann eine Feier, wenn die Toralesung gerade beendet war.
Anfangs war der eigentliche Name des Feiertags »Jom Habracha«, Tag des Segens, was die Verbindung zum allerletzten Abschnitt der Tora »Wesot Habracha« (wörtlich: »Und dies ist der Segen«, 5. Buch Mose 33, 1–34,12) herstellte. In manchen Gemeinden nannte man den Tag auch »Jom Hasium«, Tag der Vollendung.
Offenbar etablierte sich der Name »Simchat Tora« erst viel später und hat womöglich seine Ursprünge in Spanien. Übrigens wird keiner der oben aufgeführten Namen jemals im Talmud erwähnt: Der Talmud bezeichnet diesen Feiertag einfach als Verlängerung von Schemini Azeret.
Feier Ursprünglich gab es auch keine große Feier, sondern man veranstaltete einfach eine besonders feierliche Mahlzeit zu Ehren der Tora. Und selbst der anfangs beschriebene und heute weltweit befolgte Brauch, nach der Vollendung der Lesung der Tora wieder von Neuem mit der Lesung zu beginnen, kam erst später auf – etwa im 14. Jahrhundert n.d.Z.
Hakafot Den Brauch, mit den Torarollen »Hakafot« um die Bima zu laufen und zu tanzen, ist noch später bekannt geworden und findet sich zum ersten Mal in Zefat im 16. Jahrhundert. Heute ist es Brauch, sieben Hakafot zu machen, aber ursprünglich waren es entweder nur eine, drei oder sechs.
Der Brauch der Hakafot wurde vom siebenten Sukkot-Tag (Hoschana Rabba), an dem man mit Lulav und Etrog sieben Mal um die Bima geht, auf Simchat Tora übertragen. Normalerweise werden die Hakafot abends an Simchat Tora und dann am nächsten Morgen erneut praktiziert. Manche Gemeinden pflegen den Brauch, dies auch am folgenden Nachmittag beim Mincha-Gebet zu tun.
Derjenige, der als Allerletzter zur Tora aufgerufen wird und damit die Gesamtlesung vollendet, wird heute als »Chatan Tora«, der »Bräutigam der Tora«, bezeichnet. Es ist bemerkenswert, dass dies eine Veränderung der ursprünglichen Bezeichnung darstellt, nämlich »Chatam Tora« – also derjenige, der die Tora beendet beziehungsweise »versiegelt«.
Es gibt überhaupt sehr viele interessante Bräuche (Minhagim), die sich verschiedene Gemeinden für das Fest Simchat Tora angeeignet haben. Es gab beispielsweise früher einen Minhag, die Hakafot mit Kerzen zu machen, um sich an den Vers zu erinnern: »Ki Ner Mizwa weTora Or« – die Kerze ist die Mizwa, und die Tora ist das Licht.
Mussaf In Worms hat man früher sogar Hakafot um das Lagerfeuer vollzogen. Ein weiterer, sehr alter aschkenasischer Brauch ist es, an Simchat Tora den Kiddusch vor dem Mussafgebet (am Nachmittag) zu machen. Deshalb wurde »Birkat Kohanim«, der priesterliche Segen beim Mussaf (wo er gewöhnlich gesprochen wird), auf Schacharit, das Morgengebet, verschoben. Der Grund: Man hatte die Befürchtung, dass die Kohanim nach dem Kiddusch schon etwas angetrunken sein und deswegen den Segen nicht ordnungsgemäß sprechen könnten.
Auch die Frauen haben an Simchat Tora schon immer eine sehr wichtige Rolle gespielt. In vielen Synagogen waren und sind sie für die Dekoration der Torarollen für Simchat Tora verantwortlich. Die Frauen der »Chatanei Tora«, der »Bräutigame der Tora«, wurden früher liebevoll als »Kalot Tora«, die »Bräute der Tora«, bezeichnet.
In manchen Gemeinden durften die Frauen an Simchat Tora sogar den Bereich für männliche Beter betreten, um die Möglichkeit zu erhalten, die Torarollen zu küssen. Simchat Tora ist auch ein besonderer Feiertag für alle Kinder. Mittlerweile werden in allen Gemeinden auch Kinder zur Tora aufgerufen.
In manchen Gemeinden wird jedes Kind einzeln aufgerufen, in den meisten jedoch gibt es eine spezielle Alija für alle Kinder gemeinsam. Im Anschluss daran bekommen die Kinder einen speziellen Segen. Früher haben oft sogar die Kinder selbst ihre Alija vorgetragen.
Flagge Ein Gegenstand, der nur selten bei den Kindern an Simchat Tora fehlt, ist die Simchat-Tora-Flagge. Sie erinnert uns an die zwölf Stämme Israels, die während der 40 Jahre dauernden Wüstenwanderung durch eigene Flaggen repräsentiert und angeführt wurden.
In allen Gemeinden gibt es den Brauch, dass die Erwachsenen Bonbons und sogar Früchte werfen, damit die Kinder sie später aufsammeln und aus diesem Grund diesen Feiertag mit einer noch größeren Vorfreude erwarten.
Manche sagen, dass der Brauch, mit den Kindern auf den Schultern zu tanzen, uns an das Gebot der »Reija« erinnern soll, das heißt, an den drei Wallfahrtfesten Pessach, Schawuot und Sukkot nach Jerusalem in den Tempel zu pilgern.
Dementsprechend sagen manche, dass der Brauch, Frauen und Kinder in die Feierlichkeiten zu integrieren, uns an die Mitzwa von »Hakhel« erinnern soll, als sich alle Juden einmal in sieben Jahren im Tempel versammeln sollten, um die Toralesung des Königs zu hören.
Nacht Es ist zudem bemerkenswert, dass an Simchat Tora das einzige Mal im Jahr die Tora während der Nachtzeit gelesen wird. Üblicherweise ist es nicht gestattet, eine öffentliche Toralesung während der Nacht zu veranstalten. Daher hat es etwas gedauert, bis dieser Brauch sich vollkommen durchgesetzt hat.
Früher wurden in manchen Gemeinden am Abend von Simchat Tora keine Segenssprüche vor und nach den Alijot gesagt. Heute ist dieser Brauch nahezu universell, und in vielen Gemeinden werden auch am Abend die Kinder zur Tora aufgerufen. In manchen Gemeinden werden am Abend drei, in den anderen fünf Alijot gelesen.
Wie wir sehen, gibt es für Simchat Tora sehr viele unterschiedliche Bräuche. Jeder von ihnen aber ist heilig, und jede Gemeinde soll ihre Bräuche beibehalten, wie der Ramo (Raw Mosche Isserles) schrieb: »Jede Gemeinde soll ihren Brauch befolgen.«
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).