Bekanntermaßen besteht die Tora aus den fünf Büchern Mose. Manche werden überrascht sein, dass dies nur eine von zwei Meinungen im Talmud ist. Denn laut Rabbi Jehuda besteht die Tora nicht aus fünf, sondern aus sieben Büchern. So zählt er die Verse 35 und 36 im 10. Kapitel des 4. Buches Mose als ein eigenständiges Buch der Tora.
Rabbi Jehuda erklärt, dass das 4. Buch Mose nur daraus bestehe, was darin bis zu diesen Versen zu lesen ist. Das 5. Buch Mose sind die beiden genannten Verse. Das 6. Buch Mose wäre dieser Deutung zufolge all das, was wir als Rest des 4. Buches Mose bezeichnen können. Und das 7. Buch Mose ist dann identisch mit dem, was wir als das Buch Dewarim kennen, das 5. Buch Mose.
Warum zählt Rabbi Jehuda den Text der Tora auf diese Art und Weise? Was ändert es für uns, wenn wir denselben Text statt in fünf in sieben Bücher aufteilen? Selbstverständlich ist diese Ansicht kein willkürliches Zahlenspiel, vielmehr beinhaltet das Ganze eine tiefe Botschaft.
Zum einen bringt die Meinung von Rabbi Jehuda mit sich, dass der Tanach nicht mehr aus 24 Büchern, sondern aus 26 Büchern besteht. 26 aber ist der Zahlenwert des vierbuchstabigen Namens G’ttes. Die erste Botschaft der Zählung von Rabbi Jehuda lautet also: Der Tanach ist Ausdruck der g’ttlichen Weisheit, G’tt und seine Weisheit sind eins, daher sind beide Zahlenwerte gleich.
Die andere Botschaft ist folgende: Wir haben sechs Wochentage, und der siebte Tag ist der Schabbat. Die ersten sechs Tage geben, der siebte empfängt. Am Schabbat genießt man die Arbeit der sechs Tage zuvor. Der Zustand am Schabbat ist einzig und allein das Resultat dessen, was man an den Tagen zuvor für den Schabbat geleistet hat, da am Schabbat nichts Neues erschaffen werden darf.
Der Schabbat ist die perfekte Metapher für das Leben nach dem Tod.
Der Schabbat ist also die perfekte Metapher für das Leben nach dem Tod. Wer sich im Diesseits mit guten Taten vorbereitet hat, der genießt das Jenseits. Wer sich im Diesseits aber nicht vorbereitet hat, der hat nichts, was er im Jenseits genießen könnte. Daher nennen unsere Weisen den Schabbat »ein Stück von der kommenden Welt«.
Der Schabbat ist auch eine Metapher für jeden Prozess, der nur das ist, wovon er beeinflusst wurde, und nichts Eigenes hinzufügt. Das Buch Dewarim, das laut Rabbi Jehuda das 7. Buch Mose ist, unterscheidet sich deutlich von den Büchern davor. Alle Bücher der Tora sind als Rede G’ttes formuliert, das Buch Dewarim aber als direkte Rede Mosches. Alles bis zum Buch Dewarim ist das Wort G’ttes, alles ab dem Buch Dewarim ist das Wort des Menschen Mosche. Trotzdem ist das Buch Dewarim genauso ein Teil der heiligen Tora wie alles, was davor gesagt wurde.
Im biblischen Buch Tehillim, den Psalmen, heißt es: »Wohl dem Mann, der nicht in die Versammlung der G’ttlosen kommt, (…) sondern an der Tora G’ttes seine Lust hat und über seine Tora nachsinnt Tag und Nacht« (1, 1–2). Die Weisen fragen, warum im Vers zunächst von »G’ttes Tora« und dann von »seiner Tora« gesprochen wird. Sie interpretieren den Vers so: Zunächst studiert man die Tora G’ttes, aber durch ein intensives Studium wird die Tora von etwas Externem zu etwas Internem. Man wird eins mit der Tora, und die Tora wird zu »seiner Tora«, von der Tora G’ttes zur Tora des Schülers.
Der Schüler wird im Idealfall eins mit der Tora, empfängt von der Tora so viel, dass jedes einzelne Wort des Schülers im Einklang mit der Botschaft der Tora ist. Das perfekte Beispiel dafür ist Mosche. Er war so sehr ein Produkt der g’ttlichen Lehre, dass seine Worte selbst zur Lehre wurden, ohne dass er etwas von sich hinzufügte, ganz wie der Schabbat und die kommende Welt, die nichts von sich selbst hinzufügen. Daher ist die direkte Rede von Mosche, laut Rabbi Jehuda, eben das 7. Buch Mose.
Dieser Einblick in die Meinung von Rabbi Jehuda ist exemplarisch dafür, wie viel Tiefe in den Worten unserer Weisen steckt.