Nicht nur zu Pessach, sondern auch zu Chanukka stellen sich jedes Jahr dieselben Fragen, und es sind sogar mehr als vier: Heißt es Hanukka, Chanukkah, Chanukka oder Channuka? Und was genau feiern wir eigentlich? Wer waren nochmal diese Seleukiden, gegen die sich der Aufstand der Makkabäer richtete? Wie ging doch gleich der Dankessegen? Sufganijot oder Latkes? (Das soll eine Frage sein? Natürlich beides!) Wie viel Chanukka-Geld ist genug? Wo sind die Dreidel wieder hin? Was ist der Sinn des Lebens? Warum nennt der Onkel aus den USA die Chanukkia eine Menora? Und vor allem: Wie zündet man sie an – von links nach rechts, von rechts nach links, von Osten nach Westen, von oben nach unten?
Auf so gut wie alle diese Fragen gibt der Talmud eine Antwort, und meistens sogar nicht nur eine, sondern, damit man Klarheit habe, gleich mehrere. Der Traktat Schabbat regelt das Zeremoniell des Festes in gewohnter Talmudmanier – die fast schon zu illustrieren scheint, warum wir Juden die Neurose erfunden haben sollen. Unter den Vorschriften zum Zünden der Leuchter ist jedoch eine, die besondere Aufmerksamkeit zu verdienen scheint und über die ich sprechen möchte.
Aber warum sollte ich über talmudistische Regeln sprechen wollen, können und vor allem dürfen? Ich bin alles andere als ein Oberrabbiner, ich bin kein Theologe und in den Augen selbsterklärter Halachawächter wie Deborah Feldman wäre ich wohl noch nicht einmal ein »richtiger Jude« (aber das soll sie bitte mit all meinen Vorfahren ausmachen, deren Biografien vielleicht etwas weniger typisch jüdisch, etwas weniger schwer, vor allem aber etwas weniger kurz hätten sein müssen, wären sie keine Juden gewesen). Viel schlimmer noch: Ich bin ein kritisch-rational grundverkorkster Atheist.
Nun haben aber selbst atheistische Juden ihre quasispirituellen Bedürfnisse. Atheisten sind schließlich auch nur Juden wie alle anderen, nur mit einem Identitätsproblem mehr; nicht umsonst bezeichnet sie ein alter Witz im Unterschied zu den orthodoxen Juden als »paradoxe Juden«. Jedenfalls: Atheisten – und daneben vielleicht auch die nicht ganz so überzeugt Gläubigen – pflegen sich zu fragen: Was bleibt bei so einem Fest für uns übrig von all den Geboten und Gebeten?
Für das Judentum ist die Antwort klar (soweit für das Judentum jemals etwas klar sein kann – also gar nicht): Was übrigbleibt, ist die schlimme Geschichte des jüdischen Volkes – und desselben etwas weniger schlimmes Essen.
Sufganijot, Latkes, Blintzes
Zu den Sufganijot, Latkes und Blintzes kann man freilich noch etwas säkulare Philosophie servieren, womöglich sogar angerichtet mit vortrefflich modernen Begriffen. Dann wäre Chanukka, wie auch in dieser Zeitung kürzlich erläutert wurde, eine veritable Feier der Resilienz – und das kann man schlecht abstreiten, ist sie doch der Wiedereinweihung des Zweiten Tempels gewidmet, die im Jahr 164 stattfand (und damit ist natürlich das Jahr 164 vor der Geburt eines gewissen jüdischen Rabbis gemeint, der sogar noch nach seinem Tod resilient genug geblieben sein soll, um wiederzukommen und weiter Pessach zu feiern).
Das jüdische Volk ist tatsächlich zu einem staunenswerten Grade resilient, das kann man nicht anders sagen, ja, es ist so resilient, dass es vielleicht sogar die Wiedereinweihung des 164. Tempels im 2. Jahr hätte feiern können.
An das Ölwunder, welches sich zu jener Zeit ereignet haben soll, gemahnt bekanntlich die Chanukkia, und über sie heißt es im Traktat Schabbat, »man dürfe sich ihres Lichtes nicht bedienen«. Von diesem rituellen Licht darf also keinerlei Nutzen ausgehen; es ist keinem anderen Zweck zu unterwerfen als der »Bekanntmachung der Wundertat«. Um etwa lesen zu können, wird eine andere Lichtquelle gebraucht.
Diese Vorschrift erscheint umso bemerkenswerter, als es sich ja beim Licht der Kerzen oder Öllampen nicht um Materie handelt, die durch eventuellen Gebrauch geringer würde. Sie ist also sowohl ihrem Inhalt als auch ihrer Logik nach gewissermaßen antipragmatisch, der Verwendbarkeit enthoben. Das Licht, das im Dienst der Erinnerung steht, muss in seiner verweisenden Qualität unangetastet bleiben: Das Symbol darf nicht zum Instrument werden.
Möglich, dass diese Lesart und die daraus folgenden Überlegungen dem religiösen Lehrgebäude gänzlich zuwiderlaufen: Ich bin kein Rabbiner, wie ich immer wieder betonen will – und vielleicht will ich es auch deshalb immer wieder betonen, weil ich darob sogar etwas erleichtert bin. Denn nur so kann ich mir die Freiheit herausnehmen, über Vorschriften nachzudenken, wie es mir gerade gefällt – und das auch noch ohne sie überhaupt beachten zu müssen.
Das Nützlichkeitsverbot, wie ich es einmal nennen möchte, lässt mich jedenfalls daran denken, wie sehr wir beherrscht sind von der Vorstellung, alles und jedes (und sogar jeder) müsse einen Nutzen haben, einen Zweck erfüllen, einer Funktion folgen, und das nicht erst seit heute, aber heute vermutlich mehr denn je. Dabei erstreckt sich dieser Funktionalismus in einem stetig wachsenden Maße auch auf die sogenannte Erinnerungskultur (auch wenn – oder gerade weil – sie derart musealisiert erscheint, dass sich Claudius Seidl in der FAZ einmal fragen musste, »wann die Deutschen ihrer Mahnmal-, Gedenk- und Erinnerungskultur ein eigenes Mahnmal widmen werden«).
Obszöne Indienstnahme
Mit der Funktionalisierung des Holocausts meine ich nicht nur den offensichtlichen, brachialen Missbrauch des Holocausts zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit – ob durch Impfskeptiker, die den Judensternen tragen, Querdenker, die sich mit Anne Frank vergleichen, Putinfreunde, die als »neue Juden« Opferstatus beanspruchen, AfD-Fans, die sich als Widerstandskämpfer inszenieren, völkische Genossen, die an einen Dresdner Bombenholocaust gemahnen zu müssen glauben, oder Veganer, die den »Holocaust auf Ihrem Teller« ausmachen wollen, während ihn Abtreibungsgegner »im Mutterschoß« lokalisieren – und Hamas-Sympathisanten in Palästina, wo jetzt Gaza zum Ghetto werde und wo es laut Präsident Muhmad Abbas schon vorher zu nicht weniger als »fünfzig Holocausts« gekommen sei.
Treffend sprach Anshel Pfeffer in der israelischen Zeitung Haaretz daher davon, dass heutzutage jedermann seinen eigenen bevorzugten Holocaust habe (»everyone having their own preferred Holocaust«). Diese obszöne Indienstnahme des Gedenkens zwecks medialer Skandalisierung könnte man als Shoappropriation bezeichnen – in bewusster Anlehnung an das Konzept der cultural appropriation, das im Zuge seiner Trivialisierung wahllos zur Anprangerung von Musikstilen, Speisen oder Frisuren verwendet wird, die geradezu habituelle Aneignung des größten Menschheitsverbrechens der Geschichte hingegen merkwürdigerweise nicht zu umfassen scheint.
Verständlich, dass man die Menschen, zumal die jungen, gegen solche Vereinnahmungsversuche gemeinhin mittels pädagogisch wertvoller Gedenkarbeit erziehen möchte. Hierbei sind allerdings subtilere Weisen der Funktionalisierung zu reflektieren: Wenn wir unsere Gedenkformen nämlich immer daran ausrichten, welchen erzieherischen Zweck sie zu erfüllen haben, werden sie – das ist die inhärente Paradoxie – diesen Zweck auf lange Sicht höchstwahrscheinlich verfehlen. Ist eine solche kulturelle Praxis nämlich einmal dem Zweckdenken unterworfen, wird der Zweck als solcher schnell austauschbar – und sie selbst zum Instrument.
Niemals Mittel zum Zweck
Daher hat jede wahrhaft humanistische Kulturpraxis den Zweck in sich selbst. Zweck der Erinnerungskultur muss in erster Linie die Erinnerung selbst bleiben; andernfalls hat sie ihren humanistischen Kern bereits verraten, weil darin die Personen, deren man gedenkt, Teil eines Nutzdenkens geworden sind. Auch für jene Menschen, die wir verloren haben, scheint mir Kants Maxime zu gelten, der zufolge sie niemals Mittel zum Zweck werden dürfen. Erst als absolutes Humanum, frei von Vereinnahmung, wird das Gedenken fähig, Menschlichkeit, Wert und Würde des Lebens ins Bewusstsein zu heben.
Das trifft auch für andere Sphären wie Kunst, Wissenschaft und Bildung zu, die immer stärkere Bedrohung durch einen ubiquitären Funktionalismus und Utilitarismus gewärtigen. Nicht zuletzt jüdische Denker wussten diese Entwicklung offenzulegen. Martin Buber sprach von der »Verflochtenheit im Getriebe« und kritisierte das Subjekt, das sich zum »Herrn über die Welt« aufschwinge, allein wahrnehmend, »was ihm nützlich ist, was es verwenden kann«. Horkheimer verwahrte sich dagegen, dass Tätigkeiten, die nicht nützlich sind, »als sinnlos oder überflüssig, als Luxus gebrandmarkt« werden. Adorno verurteilte die »Subordination unter die Nützlichkeit« und sah in der Kunst die »Funktion des Funktionslosen«, den »unbeirrten Protest gegen die Herrschaft der Zwecke über die Menschen«. Sand im Buberschen »Getriebe« gewissermaßen.
Überall Nägel
Tatsächlich tendiert der Utilitarismus zum Totalitären, er strebt danach, sich auszubreiten, sowohl im Denken als auch im Handeln. Wie man sagt: Ein Hammer sieht überall Nägel. Für den Menschen gibt es nicht viele Lebensbereiche, in denen er kein Nagel sein muss, in denen er sich nicht unter dem Hammer des Nutzwertdenkens zu sehen verpflichtet oder verführt ist.
Es gibt also Dinge, die, um ihre Wirkung zu entfalten, von jeder Nutznießung freibleiben müssen. Selbst wenn man es mit den Geboten und Verboten der jüdischen Tradition so hält wie ich – nämlich einen Teil davon ignoriert und den anderen Teil missachtet –, werfen viele davon ein Licht auf solche Verhältnisse.
Und dieses Lichtes soll man sich bedienen.