Aguna

Selbst ist die Frau

Wie sich Jehudas Schwiegertochter Tamar durch eine List zu ihrem Recht als Witwe verhilft

von Rabbinerin A. Yael Deusel  05.12.2017 11:24 Uhr

Anspruch: Für Witwen gelten im jüdischen Recht besondere Schutzvorschriften. Foto: Thinkstock

Wie sich Jehudas Schwiegertochter Tamar durch eine List zu ihrem Recht als Witwe verhilft

von Rabbinerin A. Yael Deusel  05.12.2017 11:24 Uhr

Eingebettet in die Josefsgeschichte – gerade da, wo es spannend wird – steht eine andere Erzählung. Eine kurze nur, und doch enthält sie ein ganzes Schicksal: ein Frauenschicksal, das Leben von Tamar, der Schwiegertochter von Jehuda, Josefs älterem Bruder.

Tamar wird als junges Mädchen mit dem ältesten Sohn von Jehuda verheiratet; vermutlich hat der Vater, also Jehuda, den Brautpreis bezahlt. Was genau das Problem war, wissen wir nicht, aber offenbar ist dieser älteste Sohn ein junger Mann, der nicht viel taugt (sein Name in der Tora ist »Er« – rückwärts gelesen: »ra«, schlecht).

Witwe Der junge Mann stirbt und lässt das junge Mädchen kinderlos als Witwe zurück. Nun hat Er noch einen Bruder namens Onan, der muss das Mädchen jetzt heiraten, damit das erste Kind dann als Nachkomme des verstorbenen Bruders gilt. Doch Onan hat darauf keine Lust. Und überhaupt, was soll er mit dieser Braut, die er sich nicht selbst ausgesucht hat und die noch dazu bereits die »abgelegte« Frau seines Bruders ist? Nein, dann schon lieber »Verhütung«. Da stirbt auch dieser junge Mann, und wieder wird Tamar zur Witwe.

Und jetzt? Nun, es gibt noch einen dritten Bruder, aber der ist noch zu jung: Schela. Jehuda beschließt, Tamar zu ihrem Vater zurückzuschicken, »bis der dritte Sohn herangewachsen ist« (1. Buch Mose 38,11).

Eigentlich ist da ja nichts dabei; oder vielleicht doch? Jehuda hat nämlich keineswegs die Absicht, seinen jüngsten Sohn mit der jungen Frau zu verheiraten. Eine solche Frau, die schon zwei Männer überlebt hat, gilt als Unglücksbringerin – gerade so, als ob die Frau etwas dafür könnte.

Jehuda ist auch nicht willens, diese nutzlose Frau in seinem Haushalt durchzufüttern. Also schickt er sie »in ihres Vaters Haus« zurück. Was sie dort zu erwarten hat? Sie wird das fünfte Rad am Wagen sein, wird quasi als Magd im Haushalt ihres Vaters mitarbeiten.

Natürlich, Tamar ist eine folgsame junge Frau. Sie geht – und bringt sich damit, von Jehuda wohlberechnet, um jegliche rechtliche Handhabe gegen ihren Schwiegervater, der gar nicht daran denkt, sie mit seinem jüngsten Sohn zu verheiraten. Das merkt Tamar aber zu spät.

Haushalt Jahre später ist Schela inzwischen zum Mann herangewachsen, aber Tamar wartet vergeblich darauf, in Jehudas Haushalt zurückgerufen zu werden. Sicherlich hat sie als Witwe ein Anrecht auf die Leviratsehe. Aber wer soll ihr zu ihrem Recht verhelfen? Ihre Stammesältesten können nur über die eigene Großfamilie Recht sprechen, und in Jehudas Haushalt ist sie ja nun nicht mehr, sonst könnte sie dort die Stammesältesten um den Rechtsspruch anrufen.

Das hat Jehuda geschickt eingefädelt. Doch warum? Er hätte das Mädchen doch, als sie noch jung war und durchaus Chancen auf eine weitere Ehe hatte, aus dieser Bindung entlassen können. Er hat es aber nicht getan. Vielleicht war es ihm leid um den Brautpreis, den er bezahlt hatte.

Oder es war patriarchalisches Macho-Denken: Das Mädel gehört mir, ich kann mit ihr machen, was ich will, sie ist mir ausgeliefert. Und so entließ er sie nicht aus der Bindung und machte sie damit zur Aguna, einer Frau, die als verheiratet gilt, aber keinen Mann mehr hat.

De facto ist sie seinem jüngsten Sohn Schela versprochen – oder umgekehrt: Er wurde ihr versprochen. Doch was gilt schon das Recht einer Frau, zumal in jenen Zeiten?

Brautpreis
Irgendwann wird es auch Tamar klar: Das wird nichts mehr mit dem Schela. Sicher, sie ist ein wenig älter als er; und doch ist Tamar vermutlich noch lange keine 20 Jahre alt, als Folgendes geschieht: Tamar greift zur Selbsthilfe. Wer hat den Brautpreis bezahlt? Der Schwiegervater? Wer verweigert mir meinen zugedachten Bräutigam? Der Schwiegervater. Nun, dann soll es auch der Schwiegervater richten!

Tamar legt die unscheinbaren Witwenkleider ab, macht sich schick, verschleiert aber wohlweislich ihr Gesicht – und begegnet wie zufällig dem Jehuda auf seinem Weg zur Schafschur. Es heißt zwar später, sie hätte ihn verführt, aber in der Tora steht es anders: Er spricht sie an und macht ihr ein eindeutiges unmoralisches Angebot, weil er sie für eine Prostituierte hält. Sie geht darauf ein, und da er nichts bei sich hat, um sie angemessen zu bezahlen, verlangt sie ein Pfand von ihm: sein Rollsiegel mit der Schnur daran und seinen Stab – das wäre heute vergleichbar mit dem Personalausweis oder dem Führerschein.

Das Geschäft kommt zustande. Jehuda denkt sich nicht viel dabei. Aber er ist erstaunt, als er sein Pfand auslösen will und die Frau nicht mehr findet. Aber er lässt es auf sich beruhen.

Was er aber nicht auf sich beruhen lässt, ist einige Zeit später die Botschaft: Jehuda, deine Schwiegertochter ist schwanger! »Ehebruch!«, schreit er, und: »Die Hure soll verbrannt werden!«

Warum ist er so außer sich? Weil er sich in seiner Ehre als Patriarch angegriffen fühlt? Und was ist mit der Ehre seiner Schwiegertochter?

Lebensgefahr
Tamar ist sich dessen bewusst, dass sie sich in Lebensgefahr begeben hat – aber alles ist besser als das Dasein als Aguna, einer quasi lebendig Begrabenen. Sie zeigt nun auch Siegel und Stab vor und sagt ihrem Schwiegervater ins Gesicht: »Schau, ich bin von dem Mann schwanger, dem das da gehört.«

Jehuda begreift sofort, und er begreift auch, warum: »Sie ist gerechter als ich ...« Er nimmt sie in seinen Haushalt zurück, aber nicht als Ehefrau, sondern als – jetzt nicht mehr kinderlose – Witwe seiner Söhne. Sie hat zwar immer noch keinen Ehemann. Aber sie ist nicht mehr rechtlos und gilt auch nicht mehr als nutzlos, hat sie doch nun zwei Söhne.

Die Geschichte der Generationen geht weiter über den älteren der Zwillinge von Tamar und Jehuda, nämlich Perez, der zum Stammvater von König David wird.

Jehuda war gewiss kein Heiliger, aber er hat sein Unrecht eingesehen, als man es ihm vorhielt, und er hat es wiedergutgemacht. Er hat nicht eigensinnig auf seinem (Un)Recht als Patriarch beharrt. Wollte der Ewige doch, dass alle so einsichtig handeln wie einst Jehuda, zum Wohle der Agunot!

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, wie Josef – zum Ärger seiner Brüder – von seinem Vater Jakow bevorzugt wird. Zudem hat Josef Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. Eines Tages schickt Jakow Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef gerissen. Jakow glaubt ihnen. In der Sklaverei steigt Josef zum Hausverwalter auf. Doch nachdem ihn die Frau seines Herrn Potifar der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort lernt er den königlichen Obermundschenk sowie den Oberbackmeister des Pharaos kennen und deutet ihre Träume. Die Geschichte von Tamar unterbricht die Josefsgeschichte wie ein Zwischenspiel.
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

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