»Eine der wichtigsten jüdischen Stimmen dieser Generation ist für immer verstummt«: So lauteten die Meldungen, als Rabbi Jonathan Sacks sel. A. am 7. November vergangenen Jahres im Alter von 72 Jahren starb. Doch auch wenn der ehemalige britische Oberrabbiner nicht mehr lebt, haben sich die Meldungen in gewissem Sinne doch nicht bewahrheitet: Seine Stimme ist nicht verstummt.
Nicht nur werden im Netz seine zahlreichen Videos geschaut, seine Audiobeiträge gehört, seine Texte zu aktuellen Themen – von den Herausforderungen der Corona-Pandemie bis zur Gefährdung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts – auf Twitter oder Facebook gepostet.
inspiration Nur zwei Wochen nach seinem Tod teilte sein Büro mit, dass Rabbi Sacks für das gesamte Jahr 5781 Essays zu den Tora-Wochenabschnitten vorbereitet hatte. Man werde fortfahren, diese regelmäßig zu verbreiten, »damit Menschen auf der ganzen Welt weiterhin lernen und sich von seiner Tora inspirieren lassen können«.
So sind auf der Webseite »rabbisacks.org« oder in der WhatsApp-Gruppe »Celebrating Life« Woche für Woche die Texte zu lesen – bislang in Englisch, Hebräisch, Spanisch und Französisch. Seit Kurzem gib es auch ein Angebot für deutschsprachige Leser.
Der Bund traditioneller Juden in Deutschland (BtJ) und das Rabbinerseminar zu Berlin bieten die »Weisheit der Tora von Rabbiner Lord Jonathan Sacks sel. A.« in deutscher Übersetzung an, für die Rabbiner Dovid Kern sorgt. In einer ersten Information hieß es dazu: »Rabbiner Sacks verstand es wie kein anderer, traditionelles Lernen und jüdische Werte mit zeitgenössischen und gesellschaftlich relevanten Botschaften zu verknüpfen.« Innerhalb weniger Wochen sei die Idee umgesetzt worden, sagt Sarah Serebrinski, Geschäftsführerin des Rabbinerseminars zu Berlin.
mission Eine Sprecherin des Rabbi Sacks Legacy Trust sagte der Jüdischen Allgemeinen, die Mission der Organisation sei es, »die Lehren von Rabbi Sacks zu verewigen und zu verbreiten, damit unsere und zukünftige Generationen von seiner Weisheit profitieren können«.
Der Kommentar »Covenant & Conversation« des Rabbiners zur Paraschat Haschawua sei auch nach seinem Tod sehr populär. Seine Auslegung habe eine Synthese zwischen »dem Besten aus jüdischer Philosophie und dem Besten von westlichen Ideen und Idealen« geschaffen. Man sei dem BtJ und dem Rabbinerseminar zu Berlin sehr dankbar dafür, dass nun auch ein deutschsprachiges Publikum in den Genuss dieser Auslegungen komme.
Wie jüdische Werte und gesellschaftlich relevante Botschaften in den Texten verknüpft sind, zeigt sich zum Beispiel in den Gedanken des Rabbiners zur Gewaltenteilung, die er im Beitrag zum Wochenabschnitt Jitro ausführt. Dort geht es um Mosches Schwiegervater Jitro, der Mosche eine erste Lektion in der Führung des Volkes erteilt.
weisheit Im Essay schreibt Rabbi Sacks über die Formen und Strukturen der in der Tora beschriebenen Regierungsführung, die ein Teil der universellen Weisheit der Menschheit wurden: »Juden waren das Volk, das die Führung nicht einem einzelnen Individuum oder einer Elite überließ, wie heilig oder erhaben diese auch sein mochten. Stattdessen wurde von jedem Einzelnen erwartet, sowohl ein Prinz als auch ein Diener zu sein.«
Nie sei der Führungsgedanke so tiefgreifend demokratisiert worden. Dies habe es historisch schwierig gemacht, Juden zu führen. Wie es Chaim Weizmann, der erste Präsident Israels, in seinem berühmt gewordenen Ausspruch sagte: »Ich führe eine Nation mit einer Million Präsidenten.«
Nicht unwahrscheinlich, dass Rabbi Sacks da an die ein oder andere kontroverse Sitzung eines jüdischen Gemeindeparlaments dachte, vielleicht auch an die Schwierigkeit der Mehrheitsfindung in der Jerusalemer Knesset.
Die Betrachtungen von Rabbiner Sacks zu Führungsqualitäten sind heute topaktuell.
Zur Parascha »Wajikra« hatte Sacks die Frage aufgeworfen, ob und wie politische Führungskräfte auf ihre Fehler reagieren sollten. »In einer freien Gesellschaft wird jeder Kurs, den ein Politiker einschlägt, einigen gefallen und andere verärgern. Da gibt es kein Entrinnen. Politik bedeutet, schwierige Entscheidungen zu fällen.« Für Führungskräfte gebe es kein Regelwerk, weil jede Situation einzigartig ist. In freien Gesellschaften verändern sich zudem die Menschen – und damit ihre Kultur.
fehler Auch stehe die Welt jenseits der Grenzen einer Nation nicht still. »Ein Politiker wird also feststellen, dass das, was vor einem Jahrzehnt oder einem Jahrhundert funktioniert hat, jetzt nicht mehr anwendbar ist. In der Politik ist es leicht, einen Fehler zu begehen«, meint Sacks.
Die jüdische Herangehensweise an die Rolle einer Führungskraft sei daher eine ungewöhnliche Kombination aus Realismus und Idealismus: »Realismus in Bezug auf das Eingeständnis, dass Führer notgedrungen Fehler begehen. Idealismus hinsichtlich der konsequenten Unterordnung der Politik unter die Ethik, der Macht unter die Verantwortung, des Pragmatismus unter die Anforderungen des Gewissens.«
Abschließend kommt Rabbi Sacks zu der Feststellung: »Eine Führungskraft bedarf zweierlei Arten des Mutes: der Kraft, ein Risiko einzugehen, und der Demut, zuzugeben, wenn ein eingegangenes Risiko fehlgeschlagen ist.« Diese Weisheit ist – nicht zuletzt im Zusammenhang mit verschiedenen politischen Entscheidungen der vergangenen Tage und Wochen – zweifellos topaktuell.
GAST Beim Rabbinerseminar zu Berlin war Rabbiner Jonathan Sacks im Dezember 2015 zu Gast. Damals hielt er den Hildesheimer Vortrag an der Humboldt-Universität zum Thema Religionsfreiheit und warnte vor den Folgen religiöser Gewalt.
Sarah Serebrinski sieht den ehemaligen britischen Rabbiner mit seinen Auslegungen auch als Vorbild für die Studenten am Rabbinerseminar – zukünftige Rabbiner und Religionslehrer: »Die Art von Rabbi Sacks, an Texte heranzugehen, ist einzigartig. Auch, wie er es schafft, Menschen verschiedener Gruppierungen und Strömungen anzusprechen, damit alle ihre Lehren daraus ziehen können.«
Menschen verschiedener Gruppierungen und Strömungen werden angesprochen.
Auch der stellvertretende BtJ-Vorsitzende David Seldner, der eng mit Rabbiner Kern bei den Übersetzungen zusammenarbeitet, ist durch die Paraschot inspiriert: »Sehr viele Themen, die Rabbiner Sacks anspricht, beruhen auf seiner Lebenserfahrung und seiner Erfahrung als Führungspersönlichkeit. Diese Qualitäten erwirbt man als Rabbiner erst während seines Berufslebens, man hat sie noch nicht unbedingt während des Studiums.«
intellekt Was Seldner noch gefällt: »In den Parascha-Auslegungen von Rabbiner Sacks kann man sehr viel von sich selbst wiederfinden. Man kommt ins Überlegen und kann über sich selbst reflektieren. Man fühlt sich angesprochen wie in einem Ratgeber-Buch – aber mit der Tora als Grundlage.« Oft seien Tora-Auslegungen »sehr akademisch und theoretisch – gut für den Intellekt, aber nicht immer lebensnah. Das ist bei Rabbi Sacks ganz anders«.
Und Sarah Serebrinski hofft, dass es nach Abschluss des Jahreszyklus mit den Paraschot von Rabbiner Sacks weitere Möglichkeiten geben wird, seine Texte einem breiten Publikum nahezubringen. »Ob in der gleichen Form oder in einer anderen Form, wird sich dann noch herausstellen.«