Ein Prediger fordert die Bewohner eines Schtetls auf, nach Israel auszuwandern, sobald der Maschiach kommt. Da sagt eine alte Frau, sie könne nicht Alija machen, da sie sich um ihre Ziege kümmern muss. Der Prediger findet eine Lösung: »Im messianischen Zeitalter«, sagt er, »werden die Kosaken, die uns bis jetzt bedrohten, bessere Menschen sein und sich liebevoll um deine Ziege kümmern.« Die Frau macht einen Gegenvorschlag: »Wenn sich die Kosaken bessern, können die doch nach Israel gehen, und ich arme Frau kann mit meiner Ziege glücklich im Schtetl leben.«
In unserem Wochenabschnitt geht es um das Leben in der Diaspora. Kurz vor seinem Tod eröffnet Jakow seinen Söhnen ein geistiges Vermächtnis und entzündet ein spirituelles Licht, das ihnen helfen soll, die lange dunkle Nacht der Diaspora zu überstehen.
Botschaft Jakow befürchtet, dass es seinen Nachkommen in Ägypten gut gehen wird. Er will aber nicht, dass ihr momentanes Wohlergehen über etwas Größeres hinwegtäuscht, so fasst Rabbiner Benno Jacob (1862–1945) die Botschaft des sterbenden Patriarchen zusammen. Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) formuliert es noch schärfer: »Ihr hoffet und wünschet, in Mizrajim zu leben, ich möchte nicht einmal in Mizrajim begraben sein!«
Wie gut es den Söhnen Israels in Ägypten geht, zeigen die Namen, die sie ihren Kindern geben: Menasche – G’tt ließ mich hier das Elend des Hauses meines Vaters vergessen. Efraim – hier macht mich G’tt fruchtbar. Für uns heute bedeutet »hier« nicht mehr Mizrajim, sondern Frankfurt, Berlin oder Zürich. Die Spannung zwischen Jakows Idealismus und dem Pragmatismus seiner Söhne ist für uns postmoderne Juden immer noch relevant und aktuell.
Unser Wochenabschnitt heißt Wajechi (»Und er lebte«) und berichtet paradoxerweise über Jakows Tod in Ägypten. Oder wie Großbritanniens früherer Oberrabbiner Jonathan Sacks schrieb: Nach der Verheißung des Gelobten Landes endet das Buch Bereschit nicht mit dem Leben in Israel, sondern mit dem Sterben in Ägypten.
Talmud Unsere Weisen akzeptierten Jakows Tod nicht. Im Talmud (Taanit 5b) bittet Raw Nachman seinen Kollegen Raw Jitzchak, beim Essen eine Ansprache zu halten. Doch Raw Jitzchak weigert sich mit der Begründung, man solle nicht mit vollem Mund reden, damit man sich nicht verschlucke und sterbe.
Erst nach dem Essen hält er einen (sehr lakonischen) Vortrag. »Unser Vorvater Jakow ist nie gestorben«, sagt er.
Wieso das? Unser Wochenabschnitt enthält doch eine ausführliche Beschreibung seines Abschieds, seines Todes und der Beerdigung. Haben die alten Rabbinen alles durcheinandergebracht? Nun ja, was kann man schon von »Weisen« erwarten, die eine Erzählung über den Tod mit »Und er lebte« betiteln?
Doch nein! Der Idealismus der Weisen blendet die nüchterne Realität nicht aus. Man kann aus Raw Jitzchaks Einwand, nicht mit vollem Mund zu reden, eine ver-steckte Botschaft heraushören: Wir sind den Naturgesetzen (und den Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen und historisch-politischen Entwicklung) ausgeliefert. From- me Ideale, Gedanken und Reden können niemanden davor bewahren, an einer Gräte im Hals zu ersticken. Doch gibt es etwas Bedeutsameres, das dem physischen Tod entgehen kann: der Geist Jakows. Er ist viel mehr als ein Mensch aus Fleisch und Blut.
»Israels Tage näherten sich zum Sterben«, lesen wir im 1. Buch Mose 47,29. Der Midrasch haGadol sagt: »Seine Tage mögen zwar sterben, aber Israel selbst nicht.«
Nachdem Jakows Körper in Mizrajim starb und in Kenaan bestattet wurde, lebt sein Vermächtnis in uns weiter. Während es vielen von uns hier in der Diaspora gut geht, bewahrt uns sein Geist davor, im Wohlstand zu verkümmern, ja, an einem opulenten Essen zu ersticken – wie wir Raw Jizchaks Befürchtung auch deuten könnten.
Wir bleiben also gern bei unserer Ziege im Schtetl. Gerade hier, im deutschen Sprachraum, haben wir uns gut integriert, und wir leben lange nicht mehr unter wilden Kosaken. Also schauen wir dieser Tage dem neuen bürgerlichen Jahr 2018 fröhlich entgegen und fragen uns, ob wir bei der bevorstehenden Silvesterparty die Becher mit funkelndem Wein wohl mit einem »Prost« oder »Zum Wohl« erheben sollen. Mir persönlich wäre ein LeChaim viel lieber. Trinken wir an diesem Schabbes auf das ewige Leben Jakows, dessen wahrer Name Israel ist! In diesem Sinne: Einen guten Rutsch!
Der Autor ist Assistenzrabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26