Die Schilderung des »Anbeginns« in der Tora hat viele Gelehrte zu mannigfaltigen Deutungen veranlasst. Einige sehen darin den »alten Streit zwischen Glauben und Wissen«. Das Buch der in Deutschland preisgekrönten ungarisch-jüdischen Philosophin Ágnes Heller, ehemals Musterschülerin des marxistischen Gelehrten Georg Lukács, belehrte mich darüber, dass es bei der Schöpfungsgeschichte nicht um »Glauben oder Wissen« gehen muss.
Nach Heller handelt es sich bei »Genesis 1«, dem ersten Kapitel des 1. Buches Moses um ein philosophisches und sehr kompaktes Werk. In der Schöpfungsgeschichte wird die Grundfrage der Philosophie aufgeworfen: Warum gibt es das Etwas eher als das Nichts? Oder anders formuliert: Warum wird das Sein dem Nichtsein vorgezogen? Das sei Philosophie, aber keine klassisch-griechische, betont Heller. Eben daher bedarf es nach den Kriterien der Wissenschaft keiner Beweise, dass das Buch Genesis Wahrheit beinhaltet.
»Genesis 1« könne man nicht widerlegen, weil es eben keine Glaubenslehre, sondern Philosophie sei, behauptet Heller. Es sei wie mit den Ideen des großen antiken Philosophen Plato, die in den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden, trotz versuchter Widerlegungen, keinen Schaden nehmen konnten. Ebenfalls interessant ist, was Heller über Engel und Teufel ausführt: G’tt, weil Er der Schöpfer ist, schuf kein Mittlerwesen, also keine Engel oder Dämonen. Er schuf nichts, was in unserer Fantasie existiert. Jedoch schuf Er die Fantasie, argumentiert Heller.
Unsere Weisen und Gelehrten betrachteten natürlich die Tora und vornehmlich den Wochenabschnitt Bereschit als das Wort G’ttes und nicht aus der Warte der Philosophie, obwohl uns Dialoge zwischen Rabbinen und Philosophen in mehreren talmudischen Aggadot überliefert sind.
Argumente Unsere Meister wurden in ihren exegetischen Argumentationen von historischen und apologetischen Hintergründen geleitet. Daher wurde diese Frage aufgeworfen: Warum beginnt die Tora mit der Erzählung über die Erschaffung der Welt? Warum beginnt sie nicht gleich mit der g’ttlichen Gesetzgebung im zweiten Buch Moses, Schemot?
In einem frühmittelalterlichen Midrasch finden wir folgende Antwort: »Wenn euch eines Tages die Völker der Welt bezichtigen werden: Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben (kanaanäischen) Völker eingenommen, so antwortet ihnen: Die ganze Erde gehört dem Heiligen, gelobt sei Er. Er hat sie erschaffen und dem gegeben, der in Seinen Augen gerecht ist (Jirmijahu 27,5). Nach Seinem Willen hat Er sie jenen gegeben und nach Seinem Willen sie ihnen genommen und uns gegeben.«
Diese Aussage hatte auch der volkstümliche Kommentator Raschi (1040–1105) in sein Werk aufgenommen – ohne jedoch irgendeine aktuelle politische Lage im Blickfeld zu haben. Im elften Jahrhundert war die Betonung der g’ttlichen Besitzrechte unserer Vorfahren auf das Heilige Land in dieser exegetischen Schrift rein religiöser Natur, vornehmlich aufgrund der starken Unterdrückung der Israeliten durch die christlichen Herrscher in Europa.
Für unsere Weisen war es noch wesentlicher, die Erschaffung des Menschen zu werten: »Nur einen einzigen Menschen, Adam, schuf G’tt« – aus dem Staub der Erde (Hebräisch: Adama) –, damit nicht einmal die späteren Geschlechter wetteifern könnten, wer denn nach seiner Abstammung als vornehmer, edler gelten solle (Talmud, Sanhedrin 37a).
Hierarchie An einer anderen Stelle lernen wir von unseren Weisen: »Ein jeder Mensch tritt gleichermaßen aus dem Mutterleib hervor und verlässt diese Welt auch auf dieselbe Weise wie alle anderen Menschen auch.« Die Schöpfungsgeschichte warnt vor jeglichen Bestrebungen nach Hierarchie unter den Menschen, sie betont Einheit und Gleichheit. Und da ist noch etwas Wesentliches: G’tt hat den Menschen nach Seinem Ebenbild erschaffen. Heißt es, dass der Mensch herrschen soll über die Welt? Der Jude sieht es anders. Vor allem steht die Ebenbildlichkeit nicht als einzige Verheißung und Offenbarung für uns.
Heilig ist der Herr, und seine Herrlichkeit erfüllt die Erde, so der Prophet Jesaja. Das dritte Buch Moses, Wajikra, offenbart den Menschen: Heilig sollt ihr auch werden, weil Ich, der Herr, euer G’tt, heilig bin. Wir sehen diese Verheißungen in einem Kontext: Wenn der Mensch als Ebenbild G’ttes erschaffen wurde, muss er nach Heiligkeit streben.
Die scheinbaren Widersprüche blieben uns nicht verborgen: Kann der Mensch überhaupt neben G’tt heilig werden? Dieses Paradox bildet die Grundlage jüdischen Denkens: Die Ebenbildlichkeit G’ttes als Gnadenakt bietet die Möglichkeit, dass wir von dem Willen und Streben geleitet werden sollen, G’tt ähnlich zu handeln. Ist dies tatsächlich zu verwirklichen? Wohl kaum. Und dennoch soll dies als ideelle Zielsetzung unser Handeln leiten, als Sinn des Lebens. Aus der Erschaffung des Menschen lernen wir: Das jüdische Dasein ist eine ewige Aufgabe, nämlich das Streben nach der Heiligkeit G’ttes.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Paraschat Bereschit
Mit dem Wochenabschnitt Bereschit fängt ein neuer Jahreszyklus an. Die Tora beginnt mit zwei Berichten über die Erschaffung der Welt. Aus dem Staub der aus dem Nichts erschaffenen Welt formt der Ewige den Menschen und setzt ihn in den Garten Eden. Dieser Mensch hat zunächst beide Geschlechter und wird nun erst getrennt. Den Menschen Adam und Chawa wird verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, der inmitten des Gartens steht. Doch weil sie – verführt von der Schlange – dennoch eine Frucht vom Baum essen, weist sie der Ewige aus dem Garten. Draußen werden ihnen zwei Söhne geboren: die Brüder Kajin und Hewel. Der Ältere der beiden, Kajin, tötet seinen Bruder Hewel.
1. Buch Moses 1,1 – 6,8