Keduscha

»Seid heilig!«

Es ist wichtig, dass der Mensch seine negativen Triebe zügelt und sie in positive Bahnen lenkt. Foto: Thinkstock

Unser Wochenabschnitt beginnt mit der Aufforderung an das Volk, G’tt in seinen Eigenschaften der Heiligkeit nachzuahmen (3. Buch Mose 19, 1–2). Es folgen eine große Anzahl verschiedener Gesetzesvorschriften, die dem versammelten Volk unter der Präambel der anzustrebenden Heiligkeit erläutert werden. Sie thematisieren die Bedeutung ethischer Grundwerte und beinhalten die Achtung vor dem Schöpfer und den Respekt vor unseren Mitmenschen.

Was ist unter Keduscha (Heiligkeit) zu verstehen? G’tt wollte Seine Präsenz im jüdischen Volk etablieren, damit es seiner im 2. Buch Mose 19,6 erwähnten Berufung als »heiliges Volk« gerecht werden konnte. Voraussetzung, um dieses Ziel zu erreichen, war das Verbot geistiger Verunreinigung, die unter anderem durch die in Kapitel 18 und 20 aufgezählten sexuellen Praktiken und unzüchtigen Beziehungen verursacht wird, ferner die Zügelung negativer Triebe des Menschen, die in positive Bahnen geleitet werden sollen.

Die Kräfte menschlicher Triebe können enorme Energien entfalten und sowohl zerstörerisch als auch aufbauend wirken. Man unterscheidet heute den Individual-Erhaltungstrieb (Beschaffung von Nahrungsmitteln und Deckung der für das Überleben benötigten elementaren Bedürfnisse) und den Arterhaltungstrieb (Sexualtrieb). Nur wer seine Triebe auf allen Ebenen unter Kontrolle zu bringen vermag, kann nach der Heiligkeit streben.

Unterschied Beim genauen Lesen von Vers 19,2 fällt ein Unterschied zwischen der Keduscha G’ttes und jener der Menschen auf: »Seid heilig, denn Ich bin heilig.« Bei der an den Menschen gerichteten Aufforderung zur Heiligkeit fehlt der Buchstabe »waw« im Wort »kadosch«. Dies soll uns zeigen, dass einzig die g’ttliche Heiligkeit vollkommen ist, während der Mensch diese höchste Stufe zwar anstreben, aber nie ganz erreichen kann.

Diese grundsätzliche Unterscheidung kommt jedoch nicht nur auf orthografischer Ebene zum Ausdruck. Auch die Verbform ist verschieden. Der Aufruf zur Heiligkeit beim Menschen weist in die Zukunft (»kedoschim tihju« – »ihr sollt heilig sein«) und drückt aus, dass sich der Mensch fortwährend von einer Stufe zur nächsthöheren emporarbeiten soll. G’tt jedoch ist heilig (»ki kadosch ani« – »denn ich bin heilig«). Hier wird ein unveränderlicher Ist-Zustand beschrieben.

Die Aufforderung an den Menschen, heilig zu sein, ergeht an das ganze Volk: »Sprich zur ganzen Gemeinschaft des Volkes Israel und sag zu ihnen: Ihr sollt heilig sein« (19,2). In anderen Eröffnungssätzen des 3. Buches Mose wird nicht dermaßen betont, dass die gesamte Gemeinschaft angesprochen ist.

Raschi (1040–1105) erklärt zu der Stelle, dass Mosche die ganze Gemeinde versammeln ließ, um diejenigen Gesetzesvorschriften zu verkünden, denen die elementarsten ethischen Werte der Gesellschaft zugrunde liegen. Diese Gesetze bilden die Grundpfeiler des Judentums. Die menschliche Heiligkeit kann nur in der Gemeinschaft erreicht werden, nie jedoch auf individueller Basis. Der Inhalt der Gebote dieser Parascha regelt vor allem das gesellschaftliche Zusammenleben und soziale Verpflichtungen.

Die Aufforderung, heilig zu sein, deutet Raschi als das Unterlassen verbotener sexueller Beziehungen sowie anderer verbotener Fehlhandlungen. Nachmanides, der Ramban (1194–1279), geht in seinem Kommentar zum Aspekt der Heiligkeit von einem anderen Ansatz aus. Nach seiner Interpretation beschränkt sich die Heiligkeit nicht auf die Befolgung der Gebote und das Unterlassen von verbotenen Handlungen, sondern erweitert vielmehr die Dimension der in der Tora erlassenen Ge- und Verbote. Die Keduscha soll alle Lebensbereiche umfassen und auch in Bereiche einfließen, die von den Verboten ausgenommen sind. Selbst die Ausübung erlaubter Handlungen soll maßvoll geschehen.

schuft Der Ramban geht scharf ins Gericht mit Juden, die ihr Tun und Lassen auf die wortgetreue Befolgung des Gesetzes beschränken. Er nennt sie »Nawal birschut haTora« (»Schuft mit der Bewilligung der Tora«). G’tt begnügt sich nicht mit der technischen, paragrafentreuen Einhaltung des Gesetzes, sondern fordert eine Haltung, die das eigene Handeln ganz am Geist der Tora ausrichtet – auch und gerade bei Taten, die keine religiöse Bedeutung haben.

Unsere Weisen formulieren das Gebot der Heiligkeit im Talmud wie folgt: »Heilige dich anhand des Erlaubten« (Jewamot 20a). Allerdings darf dies nicht so weit gehen, dass man sich einer vollständigen Enthaltsamkeit unterzieht und sich selbst das Erlaubte untersagt. Unsere Weisen sagen, dass der Mensch nicht nur für verbotene Handlungen, sondern auch für versäumtes Genießen erlaubter Tätigkeiten in dieser Welt vor dem himmlischen Gericht Rechenschaft ablegen muss.

Spenden Keduscha bedeutet auch, mehr zu tun und zu leisten, als uns vorgeschrieben ist. So sind wir aufgerufen, freiwillig zusätzliche Zeit sowie Geld für jene aufzubringen, die Hilfe benötigen.

Im 3. Buch Mose 18,3 werden wir gewarnt, uns nicht der gesellschaftlichen Kultur der umgebenden fremden Völker anzupassen. Wir sind das von G’tt auserwählte Volk. Ein zentrales Eigenschaftsmerkmal äußert sich im Streben nach Heiligkeit, das mit der Einstellung erfolgt, über das Unterlassen verbotener Handlungen hinaus sich beim Erlaubten zu mäßigen und mehr zu leisten, als uns die Tora vorschreibt.

Einmal wurde ein junger Mann vom Gericht dazu verurteilt, seiner von ihm getrennten Ehefrau Unterhaltszahlungen zu leisten. Er meinte mir gegenüber, dass er fair sei, worauf ich ihn fragte, was er unter Fairness verstehe. Der Mann antwortete, er zahle alles, was das Gericht verfüge. Darauf erwiderte ich, dass dies nicht »fair«, sondern lediglich seine Pflicht sei. Mehr zu geben und mehr zu leisten als vorgeschrieben, das ist die Bedeutung von Heiligkeit.

Unser Wochenabschnitt unterstreicht, dass ethische Werte in der Gesellschaft unentbehrlich sind. Er erwähnt die Vorschriften, die die Achtung vor G’tt und den Respekt gegenüber unseren Mitmenschen zum Gegenstand haben. Damit verbindet die Tora die Gebote, die die Beziehung zwischen Mensch und G’tt regeln, mit den Gesetzen, die die Beziehung der Menschen untereinander regeln. Sie macht dabei deutlich, dass der Mensch nicht nur den Geboten G’ttes Gehorsam leisten, sondern auch im Verhältnis zu seinen Mitmenschen redlich handeln muss.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde München.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Kedoschim enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Unter anderem werden gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27

Halacha

Kann ein Jude die Beerdigung des Papstes besuchen?

Papst Franziskus wird diesen Samstag, an Schabbat, beerdigt. Observante Juden könnte das vor komplizierte Fragen stellen

von Vyacheslav Dobrovych  25.04.2025

Schemini

Offene Türen

Die Tora lehrt, auch Fremde freundlich zu empfangen

von Rabbiner Bryan Weisz  25.04.2025

Nachruf

Förderer des katholisch-jüdischen Dialogs, aber auch harter Kritiker Israels

Papst Franziskus ist am Montag im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein langjähriger Gesprächspartner, Rabbiner Jehoschua Ahrens, nimmt Abschied

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  24.04.2025 Aktualisiert

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025

Geschichte

Waren wir wirklich in Ägypten?

Lange stritten Historiker darüber, ob die Erzählung vom Exodus wahr sein könnte. Dann kamen die Archäologen

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  17.04.2025

Berlin

Berlin: Gericht bestätigt fristlose Kündigung von Rabbiner

Das Berliner Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Rabbiners wegen sexueller Belästigung eines weiblichen Gemeindemitglieds bestätigt

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  11.04.2025

Exodus

Alle, die mit uns kamen …

Mit den Israeliten zogen noch andere »Fremde« aus Ägypten. Was wissen wir über sie?

von Sophie Bigot Goldblum  11.04.2025