Bevölkerung

»Seid fruchtbar und füllet die Erde!«

Warum Weltuntergangsszenarien uns nicht davon abhalten sollten, Kinder zu bekommen

von Rabbiner Arie Folger  05.12.2019 13:38 Uhr

Foto: Getty Images/iStockphoto

Warum Weltuntergangsszenarien uns nicht davon abhalten sollten, Kinder zu bekommen

von Rabbiner Arie Folger  05.12.2019 13:38 Uhr

Miley Cyrus will keine Kinder bekommen: »Solange ich nicht weiß, dass meine Kinder auf einer Erde leben können, in der Fische in den Gewässern schwimmen, setze ich niemanden in die Welt, der damit kämpfen muss«, enthüllte die Sängerin und Schauspielerin vor Kurzem. Noch extremer äußert sich die Buchautorin Verena Braunschweiger: Kinder seien »das Schlimmste, was man der Umwelt antun kann«. Auch die Amerikanerin Katie Rose Levin stieß ins gleiche Horn.

Doch ist dies aus ethischer Sicht die richtige Entscheidung? Die Tora gebietet, Kinder zu zeugen. Zwar finden wir im Talmud eine Meinung, nach der diese Pflicht nur Juden obliege (Sanhedrin 59b), nach einer anderen talmudischen Ansicht gilt das Gebot dennoch für die gesamte Menschheit (Chullin 92a) – was ziemlich überzeugend ist, weil das Gebot Adam und Eva gegeben (1. Buch Mose 1,28) und gegenüber Noach wiederholt wurde (1. Buch Mose 9,1 und 9,7), als es noch kein jüdisches Volk gab.

Kriegszeiten Allerdings haben unsere frühen Quellen bereits anerkannt, dass es Notsituationen gibt. So schreibt der Bibelkommentator Raschi zum 1. Buch Mose 41,50, die Tora betone deshalb, dass Josef seine Kinder bekam, bevor eine von ihm vorhergesagte Hungersnot anbrach, weil sich Menschen während Hungersnöten – und vermutlich auch in Kriegszeiten – weitgehend des Geschlechtsverkehrs enthalten sollen, damit in solch schwierigen Zeiten, wenn es ohnehin nicht leichtfällt, die bereits Geborenen zu ernähren, die Nahrung nicht noch knapper wird und die Säuglinge nicht in Umstände hineingeboren werden, in denen ihr Überleben gefährdet ist. Diese Auffassung stößt allerdings nicht auf eindeutigen Konsens.

Wäre der Raum für uns Menschen knapp und fehlte die Nahrung, dann wäre eine Politik der Bevölkerungsminimierung halachisch denkbar. Allerdings ist die Sache nicht so eindeutig. Der Ökonom Thomas Malthus (1766–1834) erfand den Begriff der Tragfähigkeit der Erde. So sollte es eine bestimmte Zahl an Menschen geben, die die Erde ernähren kann. Malthus glaubte, dass die Tragfähigkeit der Welt in seiner Zeit bereits erreicht wurde.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zählte die Welt etwa eine Milliarde Menschen. Mittlerweile leben 7,3 Milliarden Menschen auf der Erde, und es gibt weniger Unterernährung als je zuvor. Seit Malthus streiten sich die Geister, wie groß die Tragfähigkeit der Erde ist. Umweltaktivisten erwähnen gerne eine höchste Zahl von zehn bis elf Milliarden Menschen, die in Zukunft auf der Welt leben können. Mit dem rapiden Wachstum der ohnehin jungen Bevölkerung Afrikas werden wir diese Zahl schnell erreichen. Aber ist die Tragfähigkeit der Erde tatsächlich so knapp?

Die Weltbevölkerung hat sich seit 1939 verdreifacht. Die Zahl der Juden sank.

Konsum Eigentlich ist es trügerisch, von einer maximalen Bevölkerungszahl zu sprechen, denn nicht jede Bevölkerung belastet die Umwelt gleichermaßen. So verbrauchen westliche Konsumenten mit ihren zahlreichen und großen Autos, großen Wohnungen, teuren und verschwenderischen Ferien in der Ferne, zahlreichen elektronischen Gadgets, allzu reichhaltiger Nahrung (insbesondere zu viel Fleisch und zu viel vegane »Superfoods« wie Avocados, die sehr viel Wasser verbrauchen) und verschwenderischer, stets wechselnder Mode wesentlich mehr Ressourcen als durchschnittliche Inder.

Und Europäer, die im Himalaya oder in Thailand zelten gehen, verbrauchen wesentlich mehr Ressourcen, als wenn die Familie stattdessen eine kulturelle Reise in einer nahe gelegenen Hauptstadt verbracht hätte oder mit dem Dieselauto in die nähere Umgebung gefahren wäre, um dort wandern zu gehen. Noch besser wäre es natürlich, mit Rad und Zug in den Urlaub zu fahren.

Sollte die ganze Menschheit große Autos und starke Klimaanlagen wie die Amerikaner verwenden, könnte die Welt möglicherweise nur etwa zwei Milliarden Menschen ernähren. Wenn wir aber wesentlich sparsamer leben, dann könnte die Erde sehr viel mehr Menschen aushalten. Wissenschaftliche Schätzungen gehen in dieser Hinsicht weit auseinander. Vorgeschlagen wird eine Tragfähigkeit von bis zu einer Billion Menschen. Unser Konsummuster ist dabei ausschlaggebender als die Zahl der Menschen auf Erden.

Es ist auch aus einem zusätzlichen Grund unvernünftig, über eine globale Überbevölkerung zu sprechen, da diese Überbevölkerung und die damit zusammenhängende Knappheit an Ressourcen nicht gleichmäßig verteilt ist. In Afrika nimmt die Bevölkerung rasant zu; in Japan schrumpft sie. Vernünftig wäre eine Politik, die an lokale Gegebenheiten angepasst ist. In China ist die Bevölkerung stabil, die Regierung hat die Ein-Kind-Politik aufgegeben. In Indien wächst die Bevölkerung, während wir in Europa zu wenige Kinder bekommen, um unsere Gesellschaft mit ihrer Wirtschaft und ihrem sozialen Sicherheitsnetz aufrechtzuerhalten.

Bei uns Juden fällt insbesondere auf, dass die Weltbevölkerung zwischen 1939 und 2019 von 2,5 auf 7,3 Milliarden wuchs, es aber 1939 weltweit etwa 18 Millionen Juden gab, während wir heute weniger als 14 Millionen sind. Während die Weltbevölkerung sich in den letzten 80 Jahren verdreifacht hat, hat das jüdische Volk seine demografische Stärke, dies es vor der Schoa hatte, nicht wieder erreicht.

Zurück zu Weltuntergangsszenarien: Die 16-jährige Greta Thunberg hielt vor den Vereinten Nationen ihre mittlerweile viel zitierte Ansprache, in der sie Politiker beschuldigte, ihrer Generation die Träume gestohlen zu haben. Was sind aber diese Träume?

utopie Eine neue Büßerbewegung sucht das Heil im Rückzug auf ein selbstgenügsames, asketisches Leben. Der »westliche Lebensstil« gilt als Ursache allen ökologischen Übels – wir produzieren zu viel, konsumieren zu viel, reisen zu viel, verbrauchen zu viele Rohstoffe und Energie. Die Klimakatastrophe erfordert eine »›Wende zum Weniger‹ – und zwar hier und jetzt«, schreibt der Grünen-Politiker Ralf Fücks. Auch ich habe eine messianische Vision einer Utopie vorgeschlagen, in der wir weniger konsumieren und mehr Genugtuung am Leben haben (Robotik, artifizielle Intelligenz und jüdische Utopie in: »Das jüdische Echo« 2017/18). Hinter vielen Formen von Klimaaktivismus aber steckt ein pessimistischer Extremismus, der kritisch zu betrachten ist.

Eine neue Büßerbewegung sucht das Heil im Rückzug auf ein asketisches Leben.

Katie Rose Levin kam nicht etwa von selbst auf die Idee, dem Umweltschutz zuliebe auf Kinder zu verzichten. Es gibt ein ganzes »Ökosystem« von Organisationen, die eine Weltanschauung verbreiten, die Menschen und die menschliche Zivilisation entweder verachtet oder ihnen wenigstens gleichgültig gegenübersteht.

Besonders ökofundamentalistisch ist »Voluntary Human Extinction Movement«, dessen Gründer Roger Hallam den Holocaust unlängst als »nur einen weiteren Scheiß in der Geschichte« bezeichnet hat. Diese Bewegung propagiert, das freiwillige Aussterben der Menschheit sei die menschliche Alternative zu unmenschlichen Katastrophen.

Wenn Miley Cyrus aus diesem Grund keine Kinder haben will, zeigt sie damit auch, dass ihr jegliche historische Perspektive fehlt. Die vormoderne Welt war eine harte Welt, in der Menschen früh starben, sich vor wesentlichen Krankheiten nicht schützen konnten und nur ein Bruchteil der Kinder das Erwachsenenalter erreichte.

Cyrus sagt: »Wir bekommen ein Stück Dreck als Planeten gereicht, und ich weigere mich, diesen an meine Kinder weiterzugeben.« Doch dies ist meiner Meinung nach lediglich eine Neuauflage des Primitivismus, einer Weltanschauung, die während der Aufklärung entstand, den »Edlen Wilden« bewunderte und die menschliche Zivilisation verachtete.

Im Gegensatz zu solch schrecklichem Pessimismus bekennt sich das Judentum zu einem grundsätzlichen Optimismus. In der Schöpfungsgeschichte befiehlt G’tt dem Menschen (1. Buch Mose 1,28): »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan!«

FAmilie Sich die Welt »untertan« zu machen, heißt nicht, sie zu zerstören, denn der Mensch wurde ebenfalls beauftragt, den Garten Eden zu schützen und zu bewahren (1. Buch Mose 2,15). Für Rabbiner Joseph B. Soloveitchik bedeutet dies vielmehr, dass der Mensch die menschliche Gesellschaft fördern soll. Für Rabbiner Samson Raphael Hirsch wird hier auf die zentrale Funktion der Familie hingewiesen, dem Grundbaustein der Gesellschaft.

Statt wegen der Umweltkrise auf Kinder zu verzichten, machen wir die Welt viel besser, wenn gerade wir, die die Umwelt respektieren, Familien gründen und unsere Kinder mit jüdischem Optimismus und der historischen jüdischen Aufgabenstellung erziehen, die auch den Schutz der Umwelt einschließt. Diese unsere Kinder werden zum Licht der Nationen (Jesaja 49,6) werden können, die ein vorbildliches moralisches, ethisches und ökologisch nachhaltiges Leben führen. Wenn schon, braucht die Welt mehr solcher Kinder, nicht weniger!

Der Autor ist orthodoxer Rabbiner in Wien und Mitglied des Vorstandes der Europäischen Rabbinerkonferenz.

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