Das berühmte Gebet »Awinu Malkenu« hat seinen Ursprung im Leiden am Klima. Wenn im Herbst und Winter die so dringend benötigten Regenfälle ausblieben, versuchte man, durch Fasten und Gebete Gott dazu zu bewegen, Regenwolken zu senden. Der Traktat Ta’anit des Babylonischen Talmuds gibt viele Geschichten über Rabbiner wieder, die angesichts anhaltender Dürren Fastentage für die Gemeinde ausriefen und flehentliche Bitten um Regen darbrachten.
In einer dieser Erzählungen heißt es: »Rabbi Elieser trat als Vorbeter vor den Aron Hakodesch und sagte 24 Segenssprüche, aber seine Bitte um Regen wurde nicht erfüllt. Nach ihm diente Rabbi Akiwa als Vorbeter und sagte: ›Unser Vater, unser König, wir haben keinen anderen König als Dich. Unser Vater, unser König, erbarm Dich über uns um Deinetwillen‹ – und Regenfälle kamen herab. Die Weisen tuschelten (weil das Gebet des großen Gelehrten nicht erhört worden war, das seines Schülers hingegen doch). Da ertönte eine himmlische Stimme und sagte: ›Nicht weil dieser größer ist als jener, sondern weil dieser seine eigenen Verdienste ignorierte, jener aber dies nicht tat‹« (bT Ta’anit 25b).
Rabbi Elieser hatte sein Gewicht als große Führungspersönlichkeit in Israel eingesetzt, um Gott zu bewegen, es für sein Volk regnen zu lassen – eigentlich eher ein Ausdruck der Verantwortung als von Eitelkeit. Rabbi Akiwa hingegen hatte ganz von irdischen Hierarchien abgesehen und darauf verzichtet, seine eigene Stellung als Fürsprache einzusetzen. Stattdessen verkündete er die völlige Unterwerfung unter Gottes Herrschaft und die Absage an irgendwelche eigenen Verdienste. Das bewirkte hier den Erfolg seines Gebets.
KÖNIGTUM Die Anerkennung von Gottes Königtum über die Welt ist eines der Leitthemen von Rosch Haschana, und so ging das im Fall einer Dürre erfolgreiche Gebet Rabbi Akiwas auch in die Liturgie der Hohen Feiertage ein. Das »Awinu Malkenu« wird in Gegenwart eines Minjans vor dem geöffneten Aron Hakodesch gesagt, die Gemeinde steht in Weiß, und eindringliche Melodien verstärken die Wirkung dieses Gebets.
Es beginnt mit dem zwischen Chasan und Gemeinde im Wechsel vorgebrachten Eingeständnis »Unser Vater, unser König, wir haben vor Dir gesündigt. Unser Vater, unser König, wir haben keinen König außer Dir. Unser Vater, unser König, verfahre mit uns gnädig um Deines Namens willen.«Der Schlussvers »Unser Vater, unser König, sei gnädig mit uns und antworte uns, denn wir haben keine verdienstvollen Taten. Lass uns Gerechtigkeit und Huld widerfahren und rette uns!« wird von allen gemeinsam mehrfach hingebungsvoll gesungen. Seit Barbra Streisand als »Yentl« das »Awinu Malkenu« in der Komposition von Max Janowski sang, ist dieses Gebet auch in der jüdischen Popkultur angekommen.
Wann genau das »Awinu Malkenu« in die jüdischen Gebetbücher aufgenommen wurde, ist nicht klar, und bis heute sind verschiedene Fassungen gebräuchlich. Einer der ältesten Siddurim, der »Seder Raw Amram Gaon« aus dem 9. Jahrhundert, führt es mit 25 Bitten an, sefardische Gebetbücher variieren zwischen 29 und 32 Bitten, der deutsche (westaschkenasische) Ritus weist 38 Bitten auf, der polnische sogar 44.
Am bekanntesten ist das Gebet aus der Morgenliturgie von Rosch Haschana und aus dem Ne’ila-Gebet zum Ausgang des Jom Kippur. Doch auch in den Zehn Tagen der Umkehr dazwischen wird es täglich gesagt, zudem an mehreren Fastentagen. Im Sommer 2020 wurde es in Israel als Bitte zur Errettung vor der Corona-Pandemie angeordnet. Die Textgestalt hat sich also über viele Jahrhunderte und in verschiedenen Gemeinschaften entwickelt, bis heute hat sie keine einheitliche Form angenommen.
Während der Hohen Feiertage nimmt der Text Bezug auf die Vorstellung der in dieser Zeit vor Gott aufgeschlagenen Verzeichnisse unserer Taten und bittet: »Unser Vater, unser König, schreibe uns in das Buch des guten Lebens (…), das Buch der Verdienste (…), das Buch des Lebensunterhalts und der Ernährung (…), das Buch der Erlösung (…) Unser Vater, unser König, schreibe uns in das Buch der Verzeihung und der Vergebung ein.«
LOBPREIS Zu Ne’ilah wird an dieser Stelle um eine Besiegelung des Eintrags (chotmenu) gebeten, an Fastentagen um Gottes Gedenken unserer (sochrenu). Am Schabbat wird das »Awinu Malkenu« nicht gesagt, weil flehentliche Bitten als unpassend für diesen Tag der Ruhe und Fülle angesehen werden. Anstelle des Hallel (Psalm 113–118) sagen Juden während der Hohen Feiertage nach der Wiederholung der Amida das »Awinu Malkenu«, das in seiner Anerkennung von Gottes Herrschaft ja der ultimative Lobpreis ist.
Vor 2000 Jahren hatte das berühmte Gebet seinen Ursprung in der Sorge um das Klima.
Auffällig und eindrücklich ist der litaneihafte Charakter dieses Gebets, das alle Bitten und Bekenntnisse Zeile für Zeile mit der Anrede »Unser Vater, unser König« eröffnet. Wenn wir während der Zehn Tage der Umkehr unser Leben, unsere Taten und die Gestaltung unserer Beziehungen bedenken, geht es auch um unser Verhältnis zu Gott. In knappster Form erfasst die Anrede als Vater und als König das Spektrum unserer Gottesbeziehungen.
Ein König ist der Inbegriff von Herrschaft, der als Gesetzgeber die Spielregeln unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens bestimmt. Einem solchen Souverän gebührt Gehorsam und Loyalität, und die Menschen sind allein in Unterordnung unter dieses höchste Richteramt berechtigt, ein gnädiges Urteil zu erbitten. Zugleich ist dies ein Bild großer, unüberwindbarer Distanz, darum suchen wir besonders in Momenten großer Seelennot und im persönlichen Gebet die Annäherung an das eher Erbarmen verheißende Bild eines Vaters.
Aber für Menschen des 21. Jahrhunderts werfen die Bilder von Vater und König auch viele Probleme auf. Sie scheinen keinen Raum zu lassen für eine Beziehung zu Gott, die nicht auf Hierarchien von Macht, Herrschaft und Unterwerfung beruht. Wir leben in einem republikanischen und demokratischen System – nicht absolute Macht, sondern der Ausgleich von Interessen gilt uns als hohes Gut. Zudem legen wir Wert auf unsere Freiheit und Autonomie – bedingungslose Unterordnung ist uns fremd. Wir erfahren menschliches Tun in der Welt durchaus als wirkungsvoll, eher wirkt Gott ohnmächtig auf uns.
Und natürlich sind die Vorstellungen von Gott als Vater und als König nicht genderfrei, sie zementieren die Vorstellung einer männlich konnotierten Autorität. Manchen sind diese Gottesbilder zu anthropomorph, also eigentlich zu klein für Gott. Wie können wir mit diesem prominenten Gebet umgehen, dessen Formel »Unser Vater, unser König« so prägend ist? Lassen sich solche Anreden Gottes durch andere Bilder ersetzen oder ergänzen? Könnten wir Gott auch als »Unsere Mutter, unsere Königin« adressieren? Hebt eine feminine Anrede die Genderisierung Gottes auf oder verstärkt sie den Eindruck der Unzulänglichkeit menschlicher Sprache, wenn von Gott die Rede ist? Was gewinnt man und was verliert man, wenn ein solch markanter Text wie das »Awinu Malkenu« verändert wird?
MACHSORIM In den letzten zwei Jahrzehnten haben vor allem englischsprachige Machsorim alternative Vorschläge gemacht. Die einfachste Lösung sind Paraphrasen, das heißt, der hebräische Text wird nicht angetastet, aber in der Übersetzung wird eine größere Variation von Gottesanreden dargeboten. Zum Beispiel lässt Rabbiner Burt Jacobson von der Gemeinde Mishkan Shalom in Philadelphia den Text des »Awinu Malkenu« alle vier Zeilen alternierend beginnen: »Unser Vater, unser König / Unsere Mutter, unsere Königin / Unser Ursprung und unsere Bestimmung / Unsere Weisung und unsere Wahrheit«. Zum Abschluss singt die Gemeinde den traditionellen Refrain. Im Konservativen Machsor »Lev Shalem« gelang es Rabbiner Edward Feld, für jede Zeile eine neue Gottesanrede zu finden, zum Beispiel »unser Schöpfer«, »unser Erlöser«, »unsere Zuflucht«; hier wird im Mittelteil bei den Bitten um einen guten Eintrag die herkömmliche Anrede und somit die Erkennbarkeit des Textes beibehalten.
Im neuen Machsor der britischen Reformbewegung, »Forms of Prayer«, verwandte Paul Freedman auch im hebräischen Text stets neue Gottesattribute und ordnete sie kunstvoll in Form eines alphabetischen Akrostichons an. Im israelischen Machsor »Kavanat HaLev« steht neben dem traditionellen »Awinu Malkenu« eine alternative Version von Rabbiner Yehoram Mazor, die Gott als »Schechinah Mekor Chajenu« (»Göttliche Gegenwart, Ursprung unseres Lebens«) anspricht und grammatisch feminine Ausdrücke verwendet.
In einem Text des amerikanischen Reformmachsors »Mishkan Hanefesh«, gedacht als Einleitung für das herkömmliche »Awinu Malkenu«, sprechen Rabbinerin Janet Marder und Rabbiner Shelly Marder unsere Suche nach einer uns entsprechenden Hinwendung zu Gott an: »Awinu Malkenu – Allmächtig und Erbarmend / Liebender Vater / (…) Awinu Malkenu / Mitleidsvolle Mutter (…) Keines dieser ist wahr, keines dieser bist Du / Doch wir stehen wie jene, die vor uns standen / Gerufen zum Gericht, sehnend nach Liebe (…) «
Es gibt keine perfekte Lösung. Intellektuelle Redlichkeit und ein aufrichtiger Gottesbezug sind uns wichtig, und dafür brauchen wir mitunter neue Texte. Gleichzeitig lebt die Kraft des »Awinu Malkenu« aus seiner stringenten Sprache, seinen archaischen Bildern, seiner eingängigen Melodie und aus dem Umstand, dass Generationen über Generationen zu den Hohen Feiertagen in der Synagoge standen und vor dem geöffneten Aron Hakodesch darum flehten, zu einem guten Jahr eingeschrieben zu werden. Und vielleicht wird uns gerade in diesem Jahr deutlich, wie viel die existenziellen Bitten mit der Sorge um das Klima zu tun haben und dass sich so der Kreis zum Ursprung dieses Gebets vor 2000 Jahren schließt.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).