»Ki tawo el Haarez« – wenn du in das Land kommst. Das heißt, wenn du den nächsten Lebensschritt machst, dann sollst du ein Ritual mit den ersten Früchten des Jahres machen, um deine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Im Hebräischen gibt es dafür einen Begriff: Hakarat Hatow, die Anerkennung des Guten.
Der amerikanische Dankbarkeitsforscher Robert Emmons schreibt: »Um auf lange Sicht in Dankbarkeit leben zu können, sind drei Schritte erforderlich: das Gute suchen, es annehmen und etwas zurückgeben.« Diese drei Schritte verbinde ich mit drei Worten in unseren Gebeten: Chen, Chessed und Rachamim. Chen: das Gute auch ohne schlechtes Gewissen annehmen. Chessed: es zurückgeben. Und Rachamim: das Gute auch im Schlechten suchen.
Die Dankbarkeitsforschung betont drei Aspekte. Erstens: Fokussiere dich darauf, was du erhalten hast! Vertiefe dein Bewusstsein darin, was du hast, und nicht darin, was du nicht hast. Durch die Dankbarkeit sollst du in der Wirklichkeit leben, mit den Füßen auf dem Boden.
Zufriedenheit Ben Soma lehrt in den Pirkej Awot: »Der mit seinem Anteil Zufriedene ist reich« (4,1). Was aber ist dieser Reichtum? Die »Corona-Erkenntnis«, dass uns das Leben gar nichts schuldet? Oder das »Lockdown-Wissen«, dass wir nichts für selbstverständlich halten dürfen?
Der zweite Aspekt: Erkenne deine Gefühle! Auch wenn sie negativ sind. Die Dankbarkeit lehrt uns die Flexibilität der Gefühle und damit die Resilienz. Im Haschkiwenu, der Bitte, sich nachts friedlich hinlegen zu können und am nächsten Morgen lebendig aufzuwachen, zählen wir jeden Abend negative Dinge auf, die von uns fernbleiben sollen: Feind, Seuche (Pandemie), Krieg, Hungersnot, Kummer.
Die Corona-Pandemie hat bei vielen etliches zerstört. Umso mehr mussten sie sich gezielt auf das fokussieren, was funktionierte. Denn wie wir selbst erfahren haben, gibt es in jeder Krise Dinge, die funktionieren. Dafür dankbar zu sein, ist »eine Behandlung, die nicht kostspielig ist, aber schnell und für jeden zugänglich« (Emmons). Und sie erhöht die
Willenskraft. Der dritte Aspekt: Isoliere dich nicht von den anderen! Erzähle ihnen, wofür du dankbar bist. Wenn es nicht geht, schreibe jeden Tag bis zu fünf Dinge auf, die in deinem Leben funktionieren. Das Dankbarkeitstagebuch kann nachhaltig beeinflussen. Studien zufolge führt diese Praxis dazu, dass sich der Spiegel des Stresshormons Cortisol im Blut um 23 Prozent senkt. Und ein Dankbarkeitsbrief reduzierte die Hilflosigkeit von 88 Prozent suizidgefährdeter Personen und ließ bei 94 Prozent von ihnen »bessere Gefühle« aufkommen.
Doch auch wissenschaftliche Daten helfen nicht gegen Vorurteile. Darum geht Robert Emmons auf Mythen ein, von denen ich drei erwähnen möchte.
mythos Der erste Mythos: Dankbarkeit macht selbstgefällig. »In Wirklichkeit trifft genau das Gegenteil zu: Dankbarkeit ist sinnstiftend und fördert den Wunsch nach Veränderung«, schreibt der Dankbarkeitsforscher. Personen, die ein Dankbarkeitstagebuch geführt haben, strengten sich mehr an, ihre Ziele zu erreichen. Sie wollten von dem Guten, das sie empfangen haben, etwas zurückgeben.
Der zweite Mythos: Dankbarkeit ist nichts anderes als eine naive Form positiven Denkens. Im Gegenteil, sie setzt voraus, »dass man seine Abhängigkeit von den anderen erkennt, und das ist kein unbedingt schönes Gefühl«. Haben wir nicht selbst oft Situationen erlebt, in denen das Geben viel einfacher war als das Annehmen?
Der dritte Mythos: Angesichts von Unglück und Leid ist Dankbarkeit nicht möglich, sie ist unangebracht. Doch dies ist gänzlich falsch, denn sie hilft, »das große Ganze zu sehen und sich durch Rückschläge oder Niederlagen nicht unterkriegen zu lassen«. Die negativen Gefühle verschwinden mit der Dankbarkeit nicht, jedoch wird es leichter, mit ihnen zu leben.
WOLKE In einem Buch habe ich kürzlich eine Schwarz-Weiß-Zeichnung gesehen. Sie zeigte eine symbolische Figur, die sich unter einer schwarzen Wolke biegt. Oberhalb der Wolke scheint die Sonne. Auf einem zweiten Bild steht diese Figur aufrecht und sieht die vorher unsichtbare Sonne dank eines Tunnels in der schwarzen Wolke. Der Tunnel trägt den Namen »Dankbarkeit«. Die schwarze Wolke ist aber nach wie vor da.
Ich vergesse nie, wie mir einmal, weit von hier in Zeit und Raum, eine Person, die Arbeit und Beziehung verloren hatte, erzählt hat, wie sie dankbar für alles sei, was sie früher erleben durfte.
Auch wenn wir in einer unvollkommenen Welt leben, sei die Dankbarkeit, schreibt Emmons, »ein Hirndünger, eine universale Währung«. Sie ist keine App, sondern ein »operating system«. Oder poetischer ausgedrückt, wie es im Siddur heißt: »Wenn unsere Münder des Brausens voll wären wie das Meer, wenn unsere Augen leuchteten wie Sonne und Mond, die Spannweite unserer Arme den Adlerflügeln gleichkäme, unsere Füße leicht wären wie die der Hirsche, selbst dann wäre es nicht ausreichend, (…) um zu danken.«
Der Autor ist Rabbiner der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Die Israeliten sollen aus Dankbarkeit für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte opfern. Und sie sollen die Gebote des Ewigen auf großen Steinen ausstellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8