Der Wochenabschnitt Ki Tawo behandelt unter anderem die Segen und Flüche, die dem jüdischen Volk beim Befolgen und Nichtbefolgen der g’ttlichen Gebote zuteilwerden sollen. Mosche unterstreicht die weitreichenden Folgen der Spiritualität für das Wohlergehen des Volkes.
So gilt folgendes Versprechen: »Wenn du nun der Stimme von Haschem, deinem G’tt, gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle Seine Gebote (…), werden über dich kommen alle diese Segnungen. (…) Gesegnet wirst du sein in der Stadt, gesegnet wirst du sein auf dem Acker« (5. Buch Mose 28, 1–4).
Furcht Des Weiteren verspricht G’tt, die Israeliten nicht nur in der Landwirtschaft zu unterstützen, sondern ihnen auch im Krieg zu helfen. Alle Feinde würden sich vor den Israeliten fürchten, falls diese sich vor dem Schöpfer fürchten.
Auf der anderen Seite werden die Folgen eines Lebens gegen die g’ttlichen Gebote aufgezeigt. In einer unglaublichen Heftigkeit wird beschrieben, wie schmerzlich das Brechen des Bundes werden kann. So heißt es unter anderem: »G’tt wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Rasen des Herzens; und du wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder tappt im Dunkeln; und wirst auf deinem Weg kein Glück haben; und wirst Gewalt und Unrecht leiden müssen dein Leben lang, und niemand wird dir helfen« (28, 28–29).
In diesem Kapitel wird dem jüdischen Volk unter anderem angedroht, aus Israel vertrieben, über die gesamte Welt zerstreut und im Exil bedrängt zu werden.
Die Botschaft der Parascha ist hart. Der Talmud (Megilla 31b) sagt, dass der Prophet Esra angeordnet hat, diesen Wochenabschnitt kurz vor Rosch Haschana zu lesen, im Monat Elul, kurz vor dem Neujahrsfest. Der Talmud sagt, dass wir dies tun, »damit das Jahr und seine Flüche enden«.
In der Liturgie für Rosch Haschana finden wir das Lied »Achot Ketana« aus dem Mittelalter. Es greift die Worte des Talmuds auf: »Das Jahr und seine Flüche sollen enden – das neue Jahr und seine Segen sollen beginnen.« Mit anderen Worten: Die Menschen sollen gerade am Ende des Jahres vom Fluch lesen, um gedanklich mit der Negativität des zu Ende gehenden Jahres abzuschließen. Dies ist möglich, da Rosch Haschana die absolute Erneuerung von allem bringen kann.
Am ersten Tag des Monats Tischri wurde laut der jüdischen Tradition die Menschheit erschaffen. Wenn man die Buchstaben des ersten Wortes der Tora, »Bereschit« – im Anfang, umstellt, so erhält man die Worte »Alef be Tischri« – der 1. Tischri. An diesem Tag ist es so, als würde die Welt neu erschaffen werden. Die Karten des Schicksals werden, ausgehend von unseren Taten und der unendlichen Weisheit des g’ttlichen Plans, neu gemischt. Unabhängig davon, was das vergangene Jahr gebracht hat, unabhängig davon, wie ausweglos das Leben scheint – die g’ttliche Entscheidung kann alles wieder auf den Kopf stellen.
Auch wenn jeder Tag die Möglichkeit zur Veränderung bietet, lehren die talmudischen Weisen, dass der Tag von Rosch Haschana eine besondere Möglichkeit zur Veränderung bietet. An diesem Tag thront G’tt über der Welt und richtet über jeden Einzelnen. Im Siddur wird der Geist dieses Tages poetisch beschrieben: »Heute wurde die Welt erschaffen, heute steht die gesamte Schöpfung vor Gericht.«
Ein eindrucksvolles Beispiel für die Erneuerungskraft des Tages von Rosch Haschana ist laut den rabbinischen Quellen das Leben des biblischen Josef. Im 1. Buch Mose lesen wir, dass Josef von seinen Brüdern verachtet wurde, dies führte zu seiner Verschleppung nach Ägypten. Dort wurde er aufgrund falscher Beschuldigungen festgenommen und verbrachte die Zeit von seinem 18. bis zu seinem 30. Lebensjahr im Gefängnis. Die ganze Zeit über verlor er nicht die Hoffnung, dass G’tt ihn erlösen wird.
Als der Pharao einen Traumdeuter brauchte, ließ er Josef rufen. Dieser deutete die Träume des Pharao und gewann dessen Wertschätzung. Der Pharao erhob Josef vom Gefangenen zu seinem Stellvertreter. Er gab ihm neue Kleidung, forderte das Volk auf, ihn zu ehren, und stellte ihm seine künftige Frau vor.
Laut den Weisen des Talmuds geschah all dies, der absolute Aufstieg vom Gefangenen zum Herrscher, innerhalb von 24 Stunden am Tag von Rosch Haschana. Das Gericht G’ttes sandte neue Energien in die Welt, einen Wind der Veränderung. Von heute auf morgen war alles anders.
Entscheidungen Die Weisen des Talmuds lehren, dass über die Gesundheit, den Genuss, das Einkommen, ja, über das gesamte Leben des Menschen in den kommenden zwölf Monaten an Rosch Haschana entschieden wird. Das Drehbuch des Jahres, das sich vom ersten Tag des Monats Tischri bis zum letzten Tag des Monats Elul abspielt, wird an diesem Tag im Groben bestimmt. Wie sich der genaue Verlauf entwickeln wird, ist natürlich von den Entscheidungen innerhalb des Jahres abhängig.
Rosch Haschana setzt sozusagen die Bühne und ein grobes Drehbuch für die kommenden zwölf Monate fest. Aus diesem Grund pflegen etliche Juden den Brauch, die gesamte Nacht von Rosch Haschana wach zu bleiben und sich dem Studium der heiligen Texte und dem Gebet zu widmen. Die Idee dahinter ist, dass der spirituelle Zustand des Menschen einen direkten, wenn auch versteckten, Einfluss auf die Vorkommnisse dieser Welt hat. Vor dem wichtigsten »Gerichtstermin« des Jahres will man sich daher noch einmal spirituell reinigen. Daher stammt auch der Brauch vieler jüdischer Männer, am Tag vor Rosch Haschana ins rituelle Tauchbad, die Mikwe, zu steigen.
Rosch Haschana ist ein Tag des Gerichts – doch die Schrift lehrt uns, dass G’tt vor allem barmherzig ist. Er will unser Bestes. Daher können und sollen wir den Schöpfer um Barmherzigkeit bitten. Möge Er uns in Seiner Gnade richten.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.
Inhalt
In Paraschat Ki Tawo wird den Israeliten aufgetragen, aus Dankbarkeit für die Ernte und die Befreiung aus der Sklaverei ein Zehntel der Erstlingsfrüchte zu opfern. Sie sollen die Gebote G’ttes auf großen Steinen ausstellen, damit alle sie sehen können. Danach schildert die Tora Fluchandrohungen gegen bestimmte Vergehen der Leviten. Dem folgt die Aussicht auf Segen, wenn die Mizwot befolgt werden.
5. Buch Mose 26,1 – 29,8