Es ist schon seltsam. Wir leben im Jahr 2019 und betrachten uns selbst als moderne, aufgeklärte und einigermaßen gebildete Menschen.Wir galoppieren auf dem Rücken des wissenschaftlichen Fortschritts durch die Welt und darüber hinaus, erforschen den Himmel und die Erde, ferne Planeten und das Universum. Wir erzielen in atemberaubendem Tempo technologische, medizinische und ökonomische Erfolge und halten uns zunehmend für unbezwingbar.
Und trotzdem werden Sie bei einer Reihe von bekannten Fluglinien daran scheitern, einen Platz in der 13. Reihe des jeweiligen Flugzeugs zu buchen. Weil nämlich die Zahl 13 – zumindest in unseren Breitengraden – als Unglückszahl gilt, werden die entsprechenden Reihen und Plätze einfach verbannt.
Reihe 13 Vorgeblich natürlich nur zu unserem Besten! In Wahrheit aber vor allem deswegen, weil die Fluglinien keine finanziellen Einbußen durch den leichtfertigen Umgang mit der sogenannten Unglückszahl riskieren wollen.
Jedenfalls halten wir uns für aufgeklärt und glauben mitunter dennoch an die Kraft von Talismanen oder die Treffsicherheit von Horoskopen. Wir mögen es nicht sonderlich, wenn eine schwarze Katze unseren Weg kreuzt. Schon gar nicht von links kommend und erst recht nicht an einem Freitag, den 13.
Obwohl ich als langjähriger Besitzer einer schwarzen Katze aus eigener Erfahrung Folgendes berichten kann: Für meine persönliche Unglücksbilanz spielte es überhaupt keine Rolle, wann meine Katze meinen Weg wie oft aus welcher Richtung gekreuzt hat. Aber wen werde ich mit meiner privaten Feldstudie schon von seinem Irrglauben abbringen?
Wir Juden haben dieser Aufzählung manches hinzuzufügen. Wenn wir Nachwuchs bekommen, vermeiden wir es, dem Neugeborenen den Vornamen eines noch lebenden Verwandten zu geben.
Wenn man uns Glück wünscht oder gute Gesundheit, dann klopfen wir dreimal auf Holz, und wenn jemand unser ansprechendes Äußeres betont, dann hört man oft den Ausruf »unberufen« oder »ken-ejne-horre«, was jiddisch ist und so viel bedeutet wie »Bloß kein böser Blick«.
Wenn wir Nachwuchs bekommen, vermeiden wir es, dem Neugeborenen den Vornamen eines noch lebenden Verwandten zu geben.
Kabbala Ich kenne auch den ein oder anderen, der ein kleines rotes Bändchen am Handgelenk trägt – Stoffbändchen, die aus der mystischen Kabbala-Bewegung stammen und Unglück aller Art verhüten sollen.
Sicher: Nicht jeder trägt das rote Armband in dem festen Glauben an dessen übernatürliche Wirkung. Doch die meisten dürften tatsächlich davon ausgehen, dass der kleine Talisman Glück, Segen und Schutz spendet.
Diese Beispiele geben einen Vorgeschmack auf manch irrational erscheinenden Brauch, der sich bis heute in unterschiedlichen Strömungen des Judentums finden lässt. Und das scheint bei näherem Hinsehen ziemlich grotesk.
Denn gerade das Judentum und vor allem die Tora verurteilen alle Formen von Aberglauben und Okkultismus aufs Schärfste. Heidnische Bräuche, Hexerei, Totenbeschwörung, Wahrsagerei und derlei werden mit eindeutigen Worten abgelehnt (5. Buch Mose 18, 10–12).
Aber wie heißt es schon bei Goethe: Grau, treuer Freund, ist alle Theorie. Denn einerseits sind die Tora und das Judentum in ihrem Kern stets logisch, rational und nachvollziehbar. So sehr, dass es eigentlich einleuchtend und folgerichtig wäre, diesem System konsequent zu folgen. Für ein gutes, glückliches Leben unter G’ttes Führung und für eine bessere Welt.
Rituale Andererseits beinhaltet dieses System eine ganze Reihe religiöser Rituale, die schnell falsch verstanden oder aber zweckentfremdet werden können. Zumal es nun einmal keine Engel sind, die das jüdische Ideal in die Praxis übertragen, sondern Menschen. Und die sind nun einmal fehlbar und damit auch von ihrer Umwelt und anderen Kulturen beeinflussbar.
Jedenfalls bietet auch die Tora keine vollständige Garantie dafür, das jüdische Leben vor Aberglauben und irrationalen Volksbräuchen bewahren zu können. Dennoch ist es mitunter notwendig, die Bräuche und Gepflogenheiten etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, um tatsächlich beurteilen zu können, wann wir es mit purem Aberglauben und wann mit religiösem Brauchtum zu tun haben.
Sicher: Das eine liegt nicht selten ziemlich nahe beim anderen. Gelegentlich hat sich das eine auch aus dem anderen entwickelt. Schließlich wurde vor allem in Altertum und Mittelalter manch verbreiteter Aberglaube in religiöse Bräuche übernommen, wobei im Lauf der Zeit der eigentliche Ursprung immer weiter in Vergessenheit geriet und durch andere Deutungen und Bedeutungen ersetzt wurde.
Dennoch ist es für viele Menschen gar nicht unbedingt entscheidend zu wissen, wie bestimmte Dinge begonnen haben, sondern es ist viel wichtiger zu wissen, welchen Sinn sie heute haben.
Spiegel Ein gutes Beispiel ist der jüdische Brauch, in einem Trauerhaus während der Trauerwoche, also während der ersten sieben Tage nach dem Tod eines Familienangehörigen, die Spiegel mit Tüchern zu verhüllen. Es ist naheliegend, dass diese Praxis ursprünglich in dem Aberglauben wurzelte, dass der Geist des Toten noch im Trauerhaus herumschweben könnte. Weswegen nicht wenige diesen Brauch inzwischen aufgegeben haben.
Andere wiederum halten diese Tradition auch heute noch. Allerdings nicht aus Furcht vor dem Geist des Verstorbenen, sondern als sichtbares Zeichen der Trauerzeit. Als Ausdruck des Wunsches, profane Eitelkeiten in Zeiten der Trauer zu verbannen. Den Fokus also auf den Schmerz, die Erinnerung und auf moralische und geistige Werte zu lenken und nicht auf Äußerlichkeiten.
Bräuche vermitteln Inhalte. Es ist unsere Aufgabe, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen.
Sicher: Wir stellen nicht jedes Mal die Frage nach dem tieferen Sinn eines Brauchs und erinnern uns nicht bewusst seiner Herkunft oder Entstehung. Und wir denken auch nicht permanent darüber nach, ob nun Aberglaube oder ein religiöses Gesetz die Wurzel ist. Was den meisten vermutlich ohnehin egal sein dürfte. Oder denken Sie etwa immer dann, wenn jemand niest und sie ihm reflexhaft »Gesundheit« wünschen, darüber nach, woher genau dieser Brauch kommt?
Niesen Ein Midrasch erklärt dazu nämlich, dass die Menschen einstmals ihr Leben mit einem Niesen beendet hätten. Dass sie also urplötzlich und ohne vorherige Anzeichen gestorben seien, wenn die Seele sozusagen herausgeniest wurde. Weshalb man dem Gegenüber also schleunigst »Gesundheit« gewünscht habe, sobald man gemerkt habe, dass er – G’tt sei Dank – noch nicht tot, sondern noch am Leben war (Pirke deRabbi Eliezer 52).
Und wer ruft sich bei jeder Benutzung des Glückwunsches »Mazel tov!« schon dessen ursprüngliche Bedeutung in Erinnerung? Die lautet nämlich »Mögest du eine gute himmlische Konstellation haben« und nicht »Herzlichen Glückwunsch«.
Todesengel Ein anderer Brauch bei manch frommem Juden sieht vor, einem lieben Menschen, der sich dem Tode nähert, während des G’ttesdienstes schnell noch einen anderen Namen zu geben. Genau genommen ist dies natürlich nichts anderes als purer Aberglaube.
Denn die Erwartung, der Todesengel könnte weiterziehen, weil er die zu holende Person wegen der Namensänderung nicht erkannt habe, dürfte leider ziemlich weit von der Wirklichkeit entfernt sein. Jedenfalls kenne ich keinen Fall, in dem es gelungen wäre, den Tod auf diese Weise auszutricksen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Familienmitglieder dankbar und gerührt sind, wenn die Gemeinde die Namensänderung bei der Toralesung vollzieht. Jeder glaubt zwar zu wissen, dass es vermutlich nichts nützen wird, aber der Vorgang als solcher wird zu einem solch starken Symbol der Zusammengehörigkeit, Verbundenheit und Anteilnahme, dass der abergläubische Ursprung schnell in Vergessenheit gerät.
Sollte man uralte Gepflogenheiten also nur deswegen ablehnen, weil sie einstmals aus volkstümlichen oder primitiven Vorstellungen entstanden sind? Vor allem, wenn sie inzwischen einen ganz anderen Zweck haben? Wenn sie nunmehr auf gefühlvolle Weise Gemeinschaft, Aufmerksamkeit und Anteilnahme vermitteln? Wenn sie Ideen und Inhalte transportieren, die zwar ursprünglich gar nicht beabsichtigt waren, die heute aber bedeutsam und wichtig sind?
Ganz sicher nicht! Denn schlussendlich liegt es allein in unserer Hand, ob wir lediglich Aberglauben tradieren, oder ob wir uns eines Vehikels bedienen, um bedeutsame Ideen und Werte zu kultivieren. Denn im Grunde ist es nicht der im Aberglauben verwurzelte Ursprung, der zählt, sondern das, was wir daraus machen.
Es ist deshalb unser Job, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Und damit das Althergebrachte in einem neuen, bedeutungsvollen Glanz erstrahlen zu lassen.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.