Man muss kein Psychologe oder Paartherapeut sein, um zu wissen, dass in einer Beziehung etwas nicht stimmt, wenn man sich nicht mehr ins Gesicht sehen kann. Denn das bedeutet Nähe. Das trifft in Partnerschaften ebenso zu wie im beruflichen Umfeld.
In Partnerschaften bedeutet es im Besonderen aber auch Intimität. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem dadurch, dass er seinem Partner während der sexuellen Vereinigung ins Gesicht schauen kann. Blickt man sich hingegen nicht mehr an, dann bedeutet das nichts Gutes.
Entfernung Die Verbindung des Ins-Gesicht-Sehens mit Intimität und besonderer Nähe ist kein Gedanke, der außerordentlich modern ist. Er wurde bereits von Rabbiner Mosche Chajm Luzatto, genannt Ramchal (1707–1746) formuliert, der in seinem Werk Da’at Tewunot einige der 13 Glaubensartikel von Maimonides anhand von kabbalistischen Prinzipien erläutert. Er gibt aber auch indirekt einen Hinweis auf ein Ereignis aus unserem Wochenabschnitt. Rabbiner Luzatto erläutert recht direkt und ohne Metapher, dass es vollkommen natürlich sei, dass ein Paar sich liebend ins Gesicht schaut und dass dies seine Nähe zueinander ausdrückt. Wenn zwei Menschen sich voneinander entfernten, dann würden sie sich abwenden; denn einander anzuschauen, würde Nähe bedeuten und jemandem den Rücken zuzuwenden, bedeute Entfernung.
In unserem Wochenabschnitt heißt es im 2. Buch Moses 33,23, dass G’tt es Mosche verwehrte, »Sein Gesicht« zu schauen. Liest man diesen Abschnitt mit dem Hintergrundwissen, dass wir einige Zeilen zuvor erlangt haben, dann mag man sich wundern. Denn in Kapitel 33, Vers 11 heißt es: »We’diber HaSchem el Mosche panim el panim jedaber isch el re’ehu – G’tt sprach zu Mosche von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Nächsten sprechen würde.«
Nun aber lesen wir: »ufanaj lo jera’u – aber mein Gesicht kannst du nicht sehen« (33,23). Passt das zusammen? Wir lesen, dass Mosche wie niemand anderer vor ihm und nach ihm mit G’tt kommunizierte. Rabbiner Abraham Joschua Heschel (1907–1972) weist uns in seinem Werk Torah min HaSchamajim auf etwas Wichtiges hin: G’tt sprach mit Mosche »panim el panim«, aber nicht Mosche mit G’tt.
Der Midrasch Tanchuma fragt, was Mosche wohl erwartete, als er Ihn bat, Seine Präsenz unmittelbar sehen zu dürfen, und mutmaßt, Mosche wollte verstehen, wie gute Taten belohnt werden würden und warum schlechte Menschen offenbar ungestraft bleiben. Laut Midrasch war Vers 33,11 die Antwort darauf: »Aber der Heilige, gepriesen sei Er, antwortete ihm. Nämlich indem G’tt sprach: Du kannst Mein Gesicht nicht sehen.«
Gefahr Mosche und uns sollte also diese tiefe Einsicht verwehrt bleiben. Andererseits erhalten wir die Möglichkeit zu eigenen Spekulationen und Annahmen. Es gibt keine absolute Sicherheit in wichtigen und den letzten Fragen des Lebens. Das bewahrt uns vor der Gefahr zu meinen, wir hätten absolute Sicherheit darin erlangt.
Es ist bekannt, dass die Überzeugung, absolute Sicherheit in religiösen Fragen zu besitzen, unweigerlich zu Fanatismus führt. Oder um es anders zu formulieren: Wir erhalten mit der Tora, überreicht durch Mosche, eine Art Gebrauchsanweisung für die Welt und das Leben, aber keine Beschreibung, wie und warum die Welt so funktioniert, wie sie funktioniert. Wir sollten uns deshalb davor hüten, auf jene zu hören, die vorgeben, genau zu wissen, wie sie funktioniert.
Die Sukka als temporäres Bauwerk erinnert ebenfalls daran, dass es keine Sicherheit gibt oder geben sollte. Man muss heraustreten und sich der Natur aussetzen in einem Gebäude, das nicht vollkommen vor der Witterung schützt.
Es gibt also trotz der engen Beziehung oder Partnerschaft, die wir zu G’tt haben, einige Bereiche, die unserer Einsicht und unserer Einwirkung entzogen sind. Das ist nicht der Fall, um ein Mysterium zu erschaffen, sondern um uns zu schützen. Wir sollen die Mizwot nicht mit einer bestimmten Absicht tun, etwa, um bei G’tt möglichst viele Punkte zu sammeln, sondern damit eine Welt entsteht, in der alle gern leben.
Der Autor ist Mitbegründer des »Minchah-Schiurs«.