Kein anderer Wochenabschnitt in der Tora enthält mehr Vorschriften als Ki Teze. 74 sind es an der Zahl. Doch bei dieser Parascha denken viele zuerst an den widerspenstigen Sohn (»Ben Sorrer uMore«). Es geht dabei um Folgendes: Kurz nach der Barmizwa stiehlt der widerspenstige Sohn Geld von seinen Eltern und verprasst es im Wirtshaus. Die Eltern versuchen alles, zuerst mit Worten, dann mit Schlägen. Nichts hilft. Der Junge will von seinem bösen Tun nicht abrücken. Die Eltern schleifen ihn zu den Ältesten und sagen niedergeschlagen: »Unser Sohn ist widerspenstig, er will nicht auf unsere Stimme hören.«
Es scheint keine andere Wahl zu geben: Der Junge wird zu Tode gesteinigt, und zwar vom ganzen Volk. »Ganz Israel soll es hören und sich fürchten.«
Doch die Sache hat einen Haken. Der Talmud sagt ziemlich mutig: Es hat nie einen »Ben Sorrer uMore« gegeben, und es wird ihn auch niemals geben (Sanhedrin 71a).
Das ist beruhigend. Denn zu schrecklich ist die Vorstellung, ein so junges Kind aufzugeben und durch eine brutale Steinigung zu verlieren.
Unser jugendlicher Rebell ist also so etwas wie Max und Moritz oder der Struwwelpeter – eine Märchengestalt aus der »schwarzen Pädagogik«, die Kinder und Jugendliche vor den Konsequenzen schlimmer Taten warnen will.
VERBRECHEN So richtig schlimm hören sich die Verbrechen des »Ben Sorrer uMore« eigentlich gar nicht an. Von den Eltern Geld stehlen und sich mit Alkohol einen bunten Abend machen – der Autor erkennt Ähnlichkeiten zu seiner eigenen Jugend. (Der ehrliche Leser hoffentlich auch.)
Der Talmud sieht dies ähnlich. Der fiktive Junge werde nicht für seine begangenen Taten getötet, sondern für seine zukünftigen, sagen die Rabbiner. Denn sein Verhalten deute darauf hin, dass er noch zu viel schlimmeren Sachen fähig ist. Wozu genau, wird nicht weiter ausgeführt. Vielleicht eine Sparkasse auszurauben oder den Sohn des Präsidenten zu entführen? Wir wissen es nicht.
Vorsorglich ein Kind zu töten, damit es später kein Übeltäter wird, ergibt keinen Sinn. Denn es gab ja doch einige jüdische Verbrecher. Hätte man sie in ihrer Jugend töten müssen? Der Fall stellt auch die jüdische Gesetzeslehre infrage. Man büßt bekanntlich für begangene Taten und nicht für zukünftige.
VORAUSSETZUNGEN Jüdische Pädagogen haben sich lange mit dem Jungen beschäftigt. Sie fragen: Warum hat es nie einen »Ben Sorrer uMore« gegeben? Sie antworten: Weil die Voraussetzungen für ihn zum Glück zu kompliziert waren. Handelt es sich zum Beispiel um den Sohn einer Alleinerziehenden, darf nicht zu den Steinen gegriffen werden. Schließlich steht in der Tora, dass die Eltern »unser Sohn« sagen. Der Junge wächst also mit Vater und Mutter auf. Gesteinigt wird der Junge auch dann nicht, wenn die Mutter oder der Vater stumm ist. Denn sie müssen ihn mit Worten ermahnen. Viele weitere Ausnahmen gibt es, die einen »Ben Sorrer uMore« gar nicht erst ermöglichen. So müssen ferner die Eskapaden des Jünglings genau zwischen seinem 13. Geburtstag und dem Vierteljahr danach passieren.
Die Sache ist nun mehr als kompliziert. Doch wir finden bei Awraham eine Geschichte, die etwas Licht in unseren Fall bringt. Es geht um Hagars Sohn Jischmael. Dieser übte einen schlechten Einfluss auf Jitzchak aus. Awraham muss Hagar und Jitzchak fortschicken. Gern macht er das nicht, aber seine Frau Sara hatte in Erziehungsfragen das Sagen.
Hagar und Jischmael irren umher, die Sonne brennt. Gott hat Erbarmen und erlöst sie von ihren Qualen. Die Engel hingegen raufen sich die Haare. Jischmael? Der heranwachsende Bösewicht? Der soll gerettet werden?
Doch Gott gibt ihnen eine Antwort, die zu einem jüdischen Glaubensgrundsatz wird: Der Mensch wird nur für seine Taten gerichtet, nicht für seine Zukunft. Und Jischmael war zu diesem Augenblick kein böser Mensch.
Dies diente den Rabbinern später als Wegleitung. Einen 13-jährigen Jungen wegen relativ harmloser Verbrechen zu steinigen? Kein Gericht wird dies jemals zulassen. Auch nicht auf die Gefahr hin, dass da ein Gewaltverbrecher heranwächst? Die Richter gehen darauf nicht ein.
KONSEQUENZ Das größte Glück im Judentum war nicht die Schrift, sondern die Deutung. »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – deutlicher kann die Konsequenz nicht ausgedrückt werden. Wer dem Feind einen Zahn ausschlägt, verliert ebenfalls einen Zahn. So steht es da. Doch unsere Rabbiner haben diese plumpe Deutung nie vollzogen, sondern: Wer einen Zahn verliert, dem erstattet der Täter den finanziellen Wert des Zahns. Gleiches gilt beim Auge. Das hört sich doch schon angenehmer an.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem unsere Rabbiner wandeln. Und es ist leichter zu verbieten, als nach Erleichterungen zu suchen. Zürich bietet aktuell ein Beispiel dafür. Dort versuchen junge Gemeindemitglieder, einen Eruw einzurichten. Sie wollen damit das Tragen am Schabbat ermöglichen. Dazu benötigen sie einen Nylonfaden, der meterhoch gespannt wird. Ein solches Vorhaben scheiterte bei den hiesigen Rabbinern stets am Einwand: »Mein Vorgänger hat so etwas nicht erlaubt.« Nun scheint ein anderer Wind zu wehen. Die Rabbiner sind mutig geworden und unterstützen das Projekt.
Auch beim »Ben Sorrer uMore« zeigte sich damals der Mut der Rabbiner. Denn der Fall ist ja eindeutig: Die Tora schreibt unmissverständlich, dass ein fehlgeleiteter Knabe getötet werden muss. Und mit etwas Exegese hätte man mit böser Absicht auch freche Mädchen zur Steinigung freigeben können. Oder Schulschwänzer, Legastheniker, Linkshänder und Dicke. Doch die Rabbiner haben sich dagegen entschieden, aus gutem Grund.
Der Autor ist Journalist in Zürich und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.
inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19