Der Feststrauß Lulav, den man an Sukkot in der Laubhütte schüttelt, wird erstmals in der Tora erwähnt: »Am ersten Tag sollt ihr eine schöne Baumfrucht (Etrog-Zitrusfrucht), Palmblätter, Myrtenzweige und Bachweidenzweige nehmen« (3. Buch Mose 23,40).
Das Sitzen in der Sukka, das am Fest ebenfalls vorgeschrieben ist, steht erst danach in der Tora geschrieben: »Du sollst sieben Tage in Hütten sitzen« (3. Buch Mose 23, 42–43). Wir sollen, wenn wir das wörtlich nehmen, rund um die Uhr in der Sukka sein, sowohl nachts als auch tagsüber.
Arba Minim
Zu den vielen Traditionen und Symbolen des Sukkotfestes gehört der Lulav, der Feststrauß, gebunden aus den sogenannten Arba Minim, vier sehr unterschiedlichen Pflanzenarten
Für die Vorschrift betreffend der Laubhütte gibt die Tora folgenden Grund an: »Denn in Hütten habe ich die Juden wohnen lassen, als ich sie aus dem Land Ägypten herausgebracht« (3. Buch Mose 23, 42–43). Laut Rabbi Akiva handelte es sich in der Geschichte um echte Hütten, laut Rabbi Eliezer waren diese Sukkot die Wolken der g’ttlichen Führung, die das jüdische Volk in der Wüste beschützten.
Doch in unserer Zeit der Bedrohung durch Corona ist dieser Schutz fragwürdig geworden. Sowohl was den Brauch angeht, in Hütten zu sitzen, als auch das Schütteln des Lulav, stehen wir in diesen Tagen vor völlig neuen Herausforderungen.
Alle Fremdkörper zwischen Hand und Lulav werfen ein halachisches Problem auf.
RATSUCHENDER Unlängst kam ein Chasan zu mir, der an Sukkot als stellvertretender Kantor in einer kleinen Gemeinde amtieren sollte. Die Sukka dort war auch relativ klein, aber viele Leute wollen ihre Mahlzeiten zu Sukkot in der Laubhütte essen. Offiziell gab es verschiedene Vorschriften für die Entfernung zwischen Menschen in dieser Stadt: Draußen muss jeder Mensch zehn Quadratmeter Freiraum haben, in geschlossenen Räumen aber nur fünf Quadratmeter. Eine kleine Rechnung zeigte jedoch bald, dass dies in der örtlichen Sukka unmöglich sein würde, selbst wenn Mund-Nasen-Schutz aufgesetzt war.
Hier stellten sich sofort zwei Fragen. Erstens: Kann die Sukka als »drinnen« betrachtet werden, weil sie vier Wände und auch ein Dach hat – wenn auch aus Schilf und Stängeln –, oder sollte sie als »draußen« gelten? Zweitens: Darf dieser Chasan gegen behördliche Anordnungen verstoßen, damit die Mizwa, in der Sukka zu sitzen und dort zu essen, erfüllt werden kann, oder sollte er dieses Jahr wegen Infektionsgefahr auf das Sitzen in der Sukka verzichten?
PIKUACH NEFESCH Ich habe mit mehreren namhaften Rabbinern aus Israel über diese Frage gesprochen. Rabbi Oscher Weiss aus Bnei Brak geht davon aus, dass Corona eine lebensbedrohliche Krankheit ist, und zieht daraus seine Schlussfolgerungen: Eine Situation der Lebensgefahr, also ein Fall von Pikuach Nefesch, hebt fast alle anderen Gebote der Tora auf.
Der Chasan muss einen allzu engen Kontakt mit den anderen Gemeindemitgliedern vermeiden und darf auf keinen Fall mit ihnen in der Sukka sitzen. Bei Lebensgefahr gilt die Hauptregel: Gehen Sie im Zweifelsfall kein Risiko ein! Also muss er die Sukka als »draußen« betrachten und für mindestens zehn Quadratmeter freien Raum zwischen den Anwesenden sorgen. Was unser Chasan tun könnte, ist: seine eigene kleine Sukka zu bauen.
Dies muss aber an einem Ort geschehen, an dem sich das S’chach, das Laub, unter freiem Himmel befindet und ein Raum von mindestens 52 mal 52 Zentimetern zur Verfügung steht. Die Laubhütte muss außerdem sturmfest sein.
BALKONE Wir wissen aus Erfahrung, wie schwierig dies in der Praxis zu realisieren ist, da die meisten Balkone nicht direkt unter freiem Himmel stehen. Gerade außerhalb Israels sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass die Nachahmung des g’ttlichen Schutzes keine einfache Angelegenheit ist. Man kann versuchen, auf der Straße vor der Tür eine Sukka zu bauen, aber dies erfordert im Normalfall die Erlaubnis der Behörden. In Amsterdam haben zwar einige meiner chassidischen Cousins die Erlaubnis dazu erhalten, aber nicht jeder Stadtrat ist gleichermaßen mitfühlend.
Dazu kommt das Problem, das wir in Corona-Zeiten mit dem Feststrauß haben. Der Lulav muss eigentlich von jedem geschüttelt werden. Normalerweise kauft die jüdische Gemeinde die Lulavim, und jeder darf sie benutzen. Aber wenn sie von Hand zu Hand gehen, bedeutet das ein Infektionsrisiko.
Üblicherweise wird dies leicht verhindert, indem die Hände jedes Mal desinfiziert und Handschuhe getragen werden. Leider entsteht dadurch ein halachisches Problem. Laut Gesetz sollte man den Lulav mit bloßen Händen halten. Alle Fremdkörper zwischen Hand und Lulav werfen ein halachisches Problem auf. Daher stellt sich die Frage: Ist es im Notfall zulässig, beim Schütteln des Lulav dünne Plastikhandschuhe zu tragen?
Rabbi Moshe Isserles (1522–1577) hat dieses Problem bereits vorweggenommen: »Man entfernt Ringe von den Händen, da dies eine Trennung zwischen der Hand und dem Lulav darstellt.« Doch streng halachisch gesehen bilden Ringe keine Trennung, solange der Rest der Hand frei ist (Schulchan Aruch 651,7).
BRACHA Rabbi Shlomo Zalman Auerbach (20. Jahrhundert, Jerusalem) fügte hinzu: Wenn Plastikhandschuhe aus medizinischen Gründen nicht entfernt werden können, kann der Lulav mit Bracha, einem Segensspruch, geschüttelt werden.
Wenn die Handschuhe laut Arzt jedoch nicht medizinisch benötigt werden und wir sie trotzdem tragen möchten, um auf der sicheren Seite zu sein, schütteln wir den Lulav ohne Bracha, da dies eigentlich kein gutes Lulav-Schütteln ist. Es kann aber ausreichend sein, die Hände jedes Mal gründlich zu desinfizieren, um das Risiko einer Kontamination zu vermeiden.
Werfen wir angesichts dieser verzwickten Situation einen Blick zurück auf die bereits vergangenen Feiertage. An Rosch Haschana, dem Geburtstag der Schöpfung, geht es darum, was es bedeutet, Mensch unter G’ttes Souveränität zu sein. Jom Kippur handelt von unserer einzigartigen Beziehung zu G’tt: Wie haben wir uns verhalten? Was machen wir mit unserem Leben?
Sukkot wiederum erinnert uns daran, was es bedeutet, ein Mitglied des jüdischen Volkes zu sein. Mit Sukkot feiern wir unsere jüdische Geschichte und Zukunft. Was können wir für unsere Zukunft tun? Weitermachen, auch wenn es schwierig ist, trotz Corona, auch wenn derzeit vieles nicht möglich ist. Der Chatam Sofer, der deutsche Rabbiner Mosche Schreiber (1762–1839), schrieb vor 190 Jahren, dass das jüdische Jahr 5780 dramatisch sein würde, dass wir aber im Jahr 5781 aus der Asche auferstehen würden. Wir hoffen weiterhin!
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).