Vom zweiten Tag des Pessachfestes sollen wir bis zum Schawuotfest sieben Wochen zählen. Deshalb heißt das Letztere auf Deutsch auch »Wochenfest«. Am achten Tag Pessach lesen wir in der Tora: »Sieben Wochen sollst du zählen: Wenn man damit beginnt, die Sichel an das stehende Getreide zu legen, sollst du die sieben Wochen zu zählen beginnen. Dann sollst du das Wochenfest dem Ewigen, deinem G’tt, feiern« (5. Buch Moses 16, 9-10).
Schon im dritten Buch der Tora begegnet uns dasselbe Gebot mit anderen Worten: »Von dem Tag aber nach dem Fest, von dem Tag an, da ihr das Omer der Schwingung dargebracht habt, sollt ihr zählen; sieben volle Wochen sollen es sein. Bis zu dem Tag nach der siebenten Woche sollt ihr 50 Tage zählen und dann dem Ewigen ein neues Speiseopfer darbringen« (3. Buch Moses 23,15-16).
Zählung Das Gebot des Omerzählens ist in mehrfacher Hinsicht besonders: Im Gegensatz zur Zählung der Joweljahre (3. Buch Moses 25,8), die durch das Sanhedrin, den obersten Gerichtshof, repräsentativ für das ganze Volk durchgeführt wurde, ist die Zählung der Zeit zwischen Pessach und Schawuot von jedem Einzelnen durchzuführen. Außerdem handelt es sich um eine doppelte Zählung: die Zählung 50 einzelner Tage und die Zählung sieben vollständiger Wochen. Diese beiden Zählungen sind aber grundverschieden voneinander: Die Tage werden zu ihrem Beginn bei Anbruch der Nacht gezählt, die Wochen jedoch erst nach ihrem Ablauf, wenn sie vollständig sind (Talmud Menachot 66a).
In all diesen Besonderheiten steckt eine tiefere Botschaft und eine Lehre für unser Leben: Jeder Mensch hat große Träume und umfassende Projekte, die er in seinem Leben verwirklichen will. Ein jeder hat seinen eigenen, persönlichen Teil zur Menschheit beizutragen. Kein Mensch gleicht einem anderen vollständig (Mischna Sanhedrin 4,5). Daher hat G’tt so viele Menschen auf der Welt erschaffen, denn jeder hat seine spezielle Aufgabe und seinen Teil beizutragen, der nur ihm eigen ist und von keinem an seiner statt übernommen werden kann. Wie aber ist dies zu erreichen?
Die Anleitung dazu finden wir im Gebot des Omerzählens. Dieses Gebot zeigt den Prozess von der physischen Befreiung aus Ägypten an Pessach bis zu seiner geistigen Vollkommenheit bei der Entgegennahme der Tora am Schawuotfest auf.
Darin steckt ein Modell für das menschliche Leben: Die Omerzählung beginnt mit dem Tag, an dem man das »Omer der Schwingung« (das Omeropfer besteht aus Gerste und wurde geschwungen) darbringt. Der Lebensabschnitt, in dem »die Schwingung« eines Menschen stattfindet, ist insbesondere die Jugend.
Pläne Es ist die Zeit, in der nicht mehr vorwiegend äußere Einflüsse wie Eltern und Schule die Persönlichkeit des Menschen bestimmen und antreiben wie in der Kindheit, sondern der junge Mann oder die junge Frau beginnt, selbst »zu schwingen«, selbstständig zu werden und einen eigenen, inneren Antrieb zu haben, etwas zu bewegen und zu erreichen. Dies ist die Zeit für große Pläne.
Am Ende der Zählung steht das »neue Speisopfer dem Ewigen«. Es symbolisiert das Neue, das jedem Menschen zu eigen ist: seine persönliche Gabe an die Menschheit.
Der Weg dorthin ist nicht immer einfach und muss sorgfältig geplant werden: 50 Tage werden einzeln gezählt, Schritt für Schritt. Die Bergspitze ist nicht mit einem großen Satz zu erstürmen, denn bei anfänglichen Mühen und Misserfolgen wird das Ziel schnell aus den Augen verloren und aufgegeben. Hang um Hang wird der Berg bestiegen, nur so kann die Spitze erobert werden. Jeder Tag wird am jeweiligen Morgen einzeln ins Auge gefasst, wobei die gesamte Konzentration nur auf ihn gerichtet ist, bis zu seinem erfolgreichen Abschluss. Dann kann der nächste Tag nachrücken. So kommt man seinem Ziel Stück für Stück näher – zwar langsam, aber sicher.
Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, nach Ablauf vollständiger Wochen auch diese zu zählen und damit auf das bereits Geleistete zurückzuschauen. Dieser Rückblick ist sehr wichtig, um festzustellen, ob man sich auf dem richtigen Weg befindet. Damit wird geprüft, ob das bereits Getane wirklich zufriedenstellt und in die richtige Richtung weist, damit das Ziel nicht vor lauter Eifer völlig verfehlt wird. Der Rückblick gibt außerdem die nötige Motivation und den Antrieb, mit erneuten Kräften in die nächste Phase zu gehen und seinen Zielen näherzurücken.
Mit großen Träumen, aber gleichzeitig realitätsbezogenen, bodenständigen und richtig aufgebauten Plänen ausgestattet, kann der Mensch Großes bewegen und leisten – bis in den Himmel hinauf.
Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.