Debatte

Schon immer Querdenker

Anarchie ist machbar – auch im Judentum. Foto: dpa

Finden sich in den Schriften von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), dem Begründer der deutschen Neo-Orthodoxie, anarchistische Ansichten? Der israelische Bibelexperte und Hochschullehrer Amnon Shapira (Jahrgang 1935) bejaht diese Frage und dürfte damit viele »Hirschianer« garantiert überraschen. In seiner solide ausgearbeiteten Studie Jewish Religious Anarchism über den jüdisch-religiösen Anarchismus vertritt Shapira die These, es habe von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart im Judentum auch eine anarchistische Strömung gegeben.

Um diese originelle Behauptung zu beweisen, referiert der Autor zahlreiche Forschungsarbeiten und auch eigene Untersuchungen. So hat noch niemand vor Amnon Shapira die Toraauslegungen Rabbiner Hirschs mit der Ideenwelt des Anarchismus in Verbindung gebracht.

Bibel Der moderne Anarchismus, für den Namen wie Bakunin, Kropotkin und Proudhon stehen, entstand erst im 19. Jahrhundert, aber er hatte zahlreiche Vorläufer, die man nach ihrer jeweiligen Schwerpunktsetzung in einer Typologie ordnen kann. Einer dieser Typen ist der religiöse Anarchismus, den wir bereits in der Bibel an einigen Stellen sehen können. Diese biblischen Passagen aufzuzählen und zu erläutern, würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Shapira spricht sogar davon, der Anarchismus sei in Wirklichkeit eine jüdische Erfindung!

Die unbestreitbare Tatsache, dass in fast allen Gruppen der modernen anarchistischen Bewegung relativ viele Juden aktiv waren, hängt nach der Auffassung Shapiras damit zusammen, dass diese Leute sowohl eine bestimmte jüdische Haltung zur Herrschaft als auch eine Wertschätzung der solidarischen Gemeinde beibehalten haben. Es wird nicht verschwiegen, dass die meisten dieser Anarchisten später als Kosmopoliten die Religion, die sie zum Anarchismus geführt hatte, heftig bekämpften.

Welches sind die zentralen Anliegen des religiösen Anarchismus? Zu nennen sind mehrere Züge, die einander ergänzen: die Hochachtung autonomer Gemeinden, die Gerechtigkeit und Gleichheit praktizieren; die Befürwortung einer Dezentralisierung der Macht (Antimonarchismus); die Verschränkung von Freiheit und Verantwortung, die eine Unterdrückung der sozial Schwachen nicht zulässt. Shapira dokumentiert in seiner umfangreichen Monografie, wie diese Prinzipien immer wieder in verschiedenen Variationen hervorgehoben worden sind.

Rabbi Akiwa Die Fülle des zusammengetragenen Materials ist beeindruckend, sogar überwältigend. Der Leser lernt bekannte Gestalten wie zum Beispiel Rabbi Akiwa (50–135), Don Yizhak Abrabanel (1437–1509), Rabbi Abraham Ibn Ezra (1089–1164) und den Religionsphilosophen Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) aus einer neuen Perspektive kennen, und er wird auch mit Ideen von Denkern aus der zweiten Reihe vertraut gemacht, die bereits in Vergessenheit geraten sind.

An mehreren Stellen des Buches ist nicht zu übersehen, dass Shapira nicht nur als ein Distanz wahrender Historiker schreibt; er ist offensichtlich in der Sache engagiert. Der Autor, der seit Jahrzehnten in der national-religiös ausgerichteten Siedlung »Kibbuz Tirat Zwi« lebt, sieht im religiösen Anarchismus etwas Positives, das Wertschätzung verdient. Obwohl Shapira um die politischen Gefahren des religiösen Anarchismus weiß, hofft er doch auf seine Renaissance in der nahen Zukunft.

Weil Shapira seine beachtenswerte Studie auf Hebräisch verfasste, werden viele interessierte Anarchismusforscher in Europa und in Amerika sie nicht studieren können. Um zumindest die Ergebnisse seiner Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat der Autor das ausführliche Inhaltsverzeichnis sowie auch eine Zusammenfassung seiner Thesen ins Englische übersetzt. Damit kann eine internationale Diskussion über den jüdisch-religiösen Anarchismus in Gang kommen.

Amnon Shapira: »Jewish Religious Anarchism«. University Ariel Press, Ariel 2015, 835 S., 120 NIS

Chametz-Verkauf

Der etwas andere Broterwerb

Juden dürfen an Pessach gesäuertes Getreide weder essen noch besitzen. Das führte in der Geschichte zu existenzbedrohenden Problemen. Die Rabbiner fanden kreative Lösungen

von Rabbiner Dovid Gernetz  10.04.2025

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  09.04.2025

Talmudisches

Birkat HaIlanot

Warum für unsere Weisen mit dem Anblick der blühenden Bäume nicht nur eine visuelle Freude verbunden ist

von Rabbinerin Yael Deusel  04.04.2025

Geschichte

Das Rätsel der christlichen Kabbala

In einer Dorfkirche im Schwarzwald hängt ein außergewöhnliches Gemälde. Unser Autor ist hingefahren, um die evangelische Sicht auf die jüdische Mystik zu verstehen

von Valentin Schmid  04.04.2025

Rabbinerausbildung

»Wenn es kriselt: durchatmen«

Dmitrij Belkin ist Vorstand der neuen Nathan Peter Levinson Stiftung. In seinem ersten Semester am Potsdamer Standort, der durch den Homolka-Skandal vorbelastet ist, hat er gelernt, Ruhe zu bewahren

von Mascha Malburg  03.04.2025 Aktualisiert

Wajikra

Kraft der Demut

Warum Bescheidenheit der Schlüssel zu wahrer Größe und innerem Frieden ist

von Samuel Kantorovych  03.04.2025

Berlin

»Wunder der Geschichte«: Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird 75

Die früheren Bundespräsidenten Gauck und Wulff würdigen den jüdischen Dachverband

von Imanuel Marcus  02.04.2025

Pekudej

Eine Frage der Hingabe

Warum Gʼtt den Künstler Bezalel auswählte, das Stiftszelt in der Wüste zu bauen

von Rabbiner Joel Berger  28.03.2025

Talmudisches

Scheidungsurkunden im Krieg

Was unsere Weisen über eine ungewöhnliche Maßnahme lehren

von Yizhak Ahren  28.03.2025