Eine der hitzigsten Debatten, die regelmäßig vor Pessach in Israel aufflammen, ist die Wiedereinführung des Korban Pessach, des biblischen Pessachopfers auf dem Tempelberg. Jedes Jahr rufen verschiedene Gruppierungen, vor allem aus dem national-religiösen Sektor, dazu auf, zum Tempelberg zu pilgern und dort das Korban Pessach zu opfern.
Und jedes Jahr versuchen sie, von der israelischen Polizei eine Genehmigung zu erhalten, die ihnen stets mit der Begründung verweigert wird, dass dies die (ohnehin angespannte) Sicherheitslage destabilisieren würde. Im April 2023 schickten sie sogar einen scharfen Brief an Itamar Ben-Gvir, den (damals) neu ernannten Minister für Nationale Sicherheit, in dem sie ihn aufforderten, seine Position zu nutzen, um das Pessachopfer dort zu ermöglichen. Zu ihrer Enttäuschung lehnte Ben-Gvir jedoch ab, obwohl er früher ein starker Befürworter des Rituals gewesen war.
Instrumentalisierung durch die israelische Politik
Doch abgesehen von der Instrumentalisierung durch die israelische Politik: Was sagt die Halacha hinsichtlich des Korban Pessach in unserer Zeit? Die Diskussion ist alles andere als neu. Der jüdische Forscher Ishtori ha-Parchi bezeugt, dass der französische Tosafist Rabbi Jechiel von Paris nach Jerusalem pilgern und dort Korbanot bringen wollte. Aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben sich die Gelehrten intensiv mit dieser Frage beschäftigt, nachdem Rabbi Zvi Hirsch Kalisher (1795–1874) in seinem Werk Drischat Zion behauptet hatte, es gebe keine halachischen Hindernisse für das Opfern von Korbanot in Jerusalem.
Der Grund, warum die Wiedereinführung dieses bestimmten Opfers angestrebt wird, ist, dass es sich beim Korban Pessach um eines der wenigen positiven Gebote handelt, dessen absichtliche Nichtbeachtung – zumindest, wenn man sich am 14. Nissan in Jerusalem befindet – die Karet-Strafe nach sich zieht: »Wenn aber jemand, der rein und nicht auf einer Reise ist, es unterlässt, das Pessachopfer darzubringen, so soll seine Seele vom jüdischen Volk abgeschnitten werden« (4. Buch Mose 9,13). Dies gilt natürlich nur, wenn es halachisch möglich ist, den Korban zu Pessach darzubringen, und genau daran zweifeln viele Rabbiner.
Der Elefant im Raum ist die Abwesenheit des Tempels, in dem man ein solches Opfer bringen könnte.
Der Elefant im Raum ist die Abwesenheit des Tempels, in dem man ein solches Opfer bringen könnte. Man könnte jedoch fragen, ob die Heiligkeit des Ortes, an dem der Tempel stand, durch die Zerstörung des Tempels tatsächlich weggefallen ist. Maimonides etwa folgt der Meinung, dass die Heiligkeit am Ort des Tempels bis heute vorhanden ist und man dort Korbanot bringen darf.
Ein weiteres potenzielles Problem ist die spirituelle Unreinheit, Tumah. Heutzutage kann die Voraussetzung der spirituellen Reinheit nicht erfüllt werden, weil alle den Status von »Tumat Met« (Unreinheit infolge des Kontaktes mit Toten) haben und es keine »Para Aduma« (Rote Kuh) gibt, mit deren Asche man sich davon reinigen kann. Jedoch besagt die Halacha, dass ein Korban, das dem ganzen jüdischen Volk obliegt, so wie eben das Korban Pessach, auch dann gebracht werden darf, wenn das ganze Volk spirituell unrein ist.
Die Opfer dürfen nur die echten Nachfahren Aharons bringen
Rabbi Akiva Eiger, eine der bedeutendsten halachischen Autoritäten des 18. Jahrhunderts, argumentiert, dass die Kohanim heutzutage über keine klaren Abstammungsnachweise verfügen. Und die Opfer dürfen nur die echten Nachfahren Aharons bringen. Hinsichtlich vieler Praktiken, bei denen Kohanim eine besondere Rolle spielen, wie der Toralesung, verlassen wir uns heute darauf, dass die Kohanim zu großer Wahrscheinlichkeit von den Priestern abstammen, aber für das Opfern eines Korban reicht das noch nicht.
Rabbi Jakob Ettlinger (1798–1871) ergänzt in einem Brief an den Initiator dieser Diskussion, Rabbi Zvi Hirsch Kalischer, dass man Korbanot nur mit der Erlaubnis eines Propheten bringen darf, und somit erst nach der Ankunft des Maschiachs.
Der Konsens der gegenwärtigen Rabbiner ist, dass man heutzutage keine Korbanot auf dem Tempelberg bringen darf. Selbst das Betreten des Hügels ist sehr umstritten. Jedoch gab es einige Rabbiner, die auf Nummer sicher gehen wollten und deswegen ihren Anhängern rieten, sich am 14. Nissan nicht in Jerusalem aufzuhalten. So verkündete der letzte Lubawitscher Rebbe 1968 in einer Ansprache an seine Chassidim, dass man infolge der Eroberung des Tempelbergs während des Sechstagekriegs im Sommer 1967 und der theoretischen Möglichkeit, das Korban Pessach zu bringen, kurz vor Pessach Jerusalem verlassen solle.