Wenn es stimmt, dass Menschen Ko-Schöpfer Gottes geworden sind, dann bereits damals im Garten Eden. Mit den Worten: »Ihr werdet gleich Gott sein« (1. Buch Moses 3,5), überredet die Schlange Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen. »Gleich Gott sein« – Raschi kommentiert die Formulierung als: »Ihr werdet Schöpfer von Universen sein«. Die Menschen seien nunmehr wie Gott in der Lage, neue Universen zu erschaffen. Als Reaktion fürchtet Gott um seine Vormacht: »Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden« (1. Buch Moses 3,22) und vertreibt Adam und Eva aus dem Paradies. So können sie wenigstens nicht mehr vom Baum des Lebens essen, der sie unsterblich gemacht hätte. Es ist nicht ganz klar, ob die Menschen weiterhin vom Baum der Erkenntnis essen. Aber gewiss ist, dass beide Bäume verheißen, was seither menschlichen Geist umtreibt: die Schöpfung neuer Universen und das ewige Leben – und am besten das eine zur Verwirklichung des anderen.
Anders als die christliche Lehre bewertet das Judentum die Übertretung des ersten Menschenpaares nicht als eine ewig fortbestehende Menschheitsschuld. Das Essen vom Baum der Erkenntnis sei eine notwendige Tat gewesen, damit Gott in die Geschichte eintreten konnte. Sie stellte die Menschen und Gott in ein neues Verhältnis zueinander. Unter anderem musste Gott von jetzt an die Menschen als Ko-Schöpfer anerkennen und im Laufe der Geschichte immer mehr Kontrolle über seine Schöpfung an sie abgeben.
Liest man jüngste Berichte über den US-amerikanischen Biologen Craig Venter, dem es in seinem Labor gelungen ist, aus künstlich synthetisiertem Erbgut einen neuen Mikroorganismus zu erschaffen, fragt man sich jedoch, ob nicht mittlerweile die Grenze dessen überschritten ist, was Menschen als Ko-Schöpfern Gottes zusteht. Venter reduzierte die Zahl der Gene einer Bakterienzelle auf ein Minimum, ohne das sie nicht existieren kann. Danach übertrug er diese genverminderte Zelle in die Zellhülle einer anderen Bakterienart. Aus der künstlich erzeugten Synthese entstand ein neuer Organismus, der nunmehr selbstständig wächst und sich vermehrt.
Durchbruch Skeptiker spielen die als Sensation gefeierte Neuschöpfung von Leben herunter. Zu deren synthetischer Erzeugung habe es immerhin einer ersten natürlichen Zelle bedurft. Nobelpreisträger David Baltimore sagt deshalb, Venter habe kein neues Leben erfunden, »er hat es nachgemacht« (Die Zeit, 27. Mai) Befürworter hingegen feiern die Aussicht, Erbgut fortan nach eigenen Vorstellungen neu kombinieren zu können, als einen menschheitsgeschichtlichen Durchbruch. »Leben kann gemacht werden«, sagt der Bioethiker Arthur L. Caplan. »Jetzt müssen wir sehen, ob wir der Aufgabe gewachsen sind, es für humane und noble Zwecke einzusetzen.« Er und andere betonen die Chancen, die diese neue Technologie bereithalte.
Mithilfe künstlich geschaffener Organismen könnten Krankheiten bekämpft und effektivere Arzneimittel hergestellt, die Welt von Energieproblemen befreit und Umweltprobleme gelöst werden. Zugleich kommen jedoch Frankenstein-Visionen auf sowie Befürchtungen, die neue Technologie könne in die Hände von Verbrecherstaaten und Terroristen gelangen.
Egal, wie weit die sogenannte synthetische Biologie in Zukunft unser Leben prägen wird, schon jetzt stellt sich die Frage, ob eine religiöse Sicht helfen kann, sie nach ethischen Gesichtspunkten treffend zu beurteilen. Bei bioethischen Herausforderungen auf dem Gebiet der Genom-Forschung gab auf jüdischer Seite stets der Begriff »Pikuach Nefesch« (Rettung von Leben) den Ton an. Hierin stimmen liberale und orthodoxe Rabbiner überein.
Maßgeblich sei das Gebot: »Bleibe nicht untätig bei der Lebensgefahr deines Nächsten« (3. Buch Moses 19,16). Wenn sie dem Heilen und Retten von Menschenleben diene, sei die Genom-Forschung zu unterstützen. Orthodox-jüdische Medizin-Ethiker entwickelten entsprechend die Halacha weiter und bewirkten manches Umdenken. So ermuntert die aufgeklärte Orthodoxie heute zu Organspenden, was zunächst eine halachische Auseinandersetzung mit der Unversehrtheit des Körpers nach dem Tod erforderte.
Paradigma Auch wenn sich Pikuach Nefesch in einen Zusammenhang mit der künstlichen Erzeugung neuer Organismen bringen lässt, reicht die Rettung von Leben als ethisches Kriterium jedoch nicht aus. Die eigentliche Herausforderung liegt nämlich nicht in den Ergebnissen der synthetischen Biologie, sondern in der neuen Rolle der Menschen als Schöpfer von bis dato ungekanntem Leben (unabhängig davon, ob damit bestehendes Leben gerettet wird). Hält man sich an Raschis Kommentar zu den Worten der Schlange, sollte man das dadurch möglich werdende neue Universum nicht vorschnell ablehnen.
Wenn man sich einen Moment vom Gebiet der Biologie löst und andere Bereiche erwägt – zum Beispiel die Schaffung von Energie aus dem Windrad, die massenhafte Informationsverbreitung durch das Internet oder die westliche Konsumkultur –, stellt man fest, dass die neuen Möglichkeiten der synthetischen Biologie nur Ausprägungen eines größeren, neuen Paradigmas sind, in dem wir schon seit Längerem leben.
Weder die Beschränkungen der Natur eines so und nicht anders gegebenen Planeten, noch die Knappheit der Ressourcen und Güter bestimmen dieses neue Paradigma, sondern unbegrenzte Vervielfältigung. Aus ganz wenigem kann heute ganz viel reproduziert werden. Jede ernst zu nehmende religiöse Ethik muss erst einmal dieses Paradigma verstehen und anerkennen, bevor sie moralische Urteile ausspricht, die dem gerecht werden können. Entscheidend an diesem Mustert ist, dass es neues Chaos und damit neue Verwirrungen stiftet.
Anwendung Seit jeher legt die jüdische Tradition ihren Schwerpunkt weniger auf den rechten Glauben als auf das konkrete Tun. Gerade deshalb könnte sie in Bezug auf die synthetische Biologie einen hilfreichen ethischen Zugang bieten. Es geht wie in den einstigen talmudischen Debatten um kein klares Ja oder Nein, sondern um Kriterien für die konkrete Anwendung der neuen Möglichkeiten. Dies erfordert allerdings eine neue Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Ethik und Schöpfung und der Rolle der Menschen darin. Mit dem Begriff »Verantwortung« ist dabei nicht alles gesagt, da dieser zu sehr vom Menschen und seiner Fähigkeit ausgeht, das eigene Tun kontrollieren zu können.
Zweifellos werden die neuen biosynthetisch hergestellten Organismen irgendwann ein unvorhergesehenes Eigenleben entfalten, das heute weder absehbar noch in Zukunft ganz durchschaubar ist – für das man also nicht die ganze Verantwortung übernehmen kann. Letztlich drücken die Frankenstein-Visionen diese Ahnung aus. Was nottut, ist ein neues Verhältnis der Menschen zu einer Schöpfung, die sie selbst erschaffen, über die sie jedoch nicht die ganze Kontrolle haben werden. Das verlangt, ein Maß an dynamischer Eigenständigkeit innerhalb der Schöpfung anzuerkennen, die sich nicht ausschießlich vom Menschen her erschließt.
Tatsächlich enthält die jüdische Tradition Ansätze einer nicht-anthropozentrischen Ethik, die man als »Schöpfung in der Spannung zur Erlösung« bezeichnen kann. Bestes Beispiel ist der Kiddusch. Er untermalt nicht nur schöne Rituale, sondern stellt die Weinrebe in einen heilsgeschichtlichen Horizont. Am Schabbat segnen wir die Rebe mit Verweis auf die Schöpfung sowie auf die Befreiung vom ägyptischen Sklavenjoch. In der Hawdala-Zeremonie nennen wir das Glas Wein das »Kos Jeschuot«, den »Becher der Rettung«. Wörter wie »Erlösung« oder »Rettung« werden heute wegen ihrer christlichen Assoziationen nur ungern von Juden gebraucht.
In Bezug auf die politischen Botschaften der Tora spricht man lieber von »Befreiung«, da dies besser ins politische Denken passt. Aber damit wird ein größerer, über die Menschen hinausweisender Rahmen ausgeblendet. »Erlösung« bedeutete im Judentum nie Erlösung vom Leben sondern genau umgekehrt: ein befreiendes Lösen zu sich selbst, ein Aktivmachen von Leben, was von vornherein auch Wandel voraussetzt. In der Natur manifestiert sich die »Spannung zur Erlösung« als triebhafter Drang, der vom Menschen her nur bedingt durchschaut werden kann, aber der Evolution verursacht.
Kontrolle Verengte Sichtweisen, wonach der jüdischen Tradition vor allem die Aufgabe zukomme, den distinktiven Charakter des jüdischen Volks zu garantieren, greifen vor den heutigen Herausforderungen genauso zu kurz, wie der Nachweis, dass die jüdische Tradition immer schon ethische Postulate wie Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und die Demokratie verfolgt habe, die heute die westliche politische Kultur bestimmen. Jüdisch-religiöse Denker sollten die künftige Aufgabe der Religion nicht allein in gekannten und kontrollierbaren Lebensbereichen sehen, sondern die Menschen in eine ethische Beziehung zu den ungekannten und unkontrollierbaren Folgen ihrer eigenen Schöpfungen stellen.
Schon Gott musste die paradoxe Erfahrung machen, dass er indem er eine Schöpfung schafft, zugleich die Kontrolle über sie verliert. Als Ko-Schöpfer Gottes stehen wir vor demselben Widerspruch. Aber gerade in diesem Paradox liegt die Chance zu einer dynamischen Realität, die positive Veränderung, Wandel, Befreiung – und wenn man religiös sprechen will – Erlösung oder Rettung möglich macht.