Kürzlich haben wir in der Synagoge eines der schwersten Kapitel aus Avrahams Leben gelesen: die Erzählung von der Bindung Jitzchaks, der Akedat Jitzchak. Avraham wird von G’tt damit beauftragt, seinen Sohn zu töten und macht sich auch gleich an die Vorbereitung des Unterfangens.
Dieser Text gehört wahrscheinlich zu den meistkommentierten des gesamten Tanach. Abgesehen von der Frage danach, wie G’tt so etwas von einem Menschen, und noch dazu von einem, der ihm wohlgesinnt ist, verlangen kann, wird oft die Frage gestellt, warum Avraham G’tt sofort gehorcht, ohne Fragen zu stellen und ohne sich vehementer für seinen Sohn einzusetzen.
Amorra Es gibt zwei Situationen, in denen Avraham sich Tod und Verderben gegenüber sieht. Die erste finden wir in der Erzählung von Sodom und Amorra. G’tt spricht zu Avraham (obwohl es eher so klingt, als würde Er gedankenversunken zu sich selbst sprechen), Er wolle hinabsteigen und sehen, ob das, was Ihm über die Stadt zu Ohren gekommen sei, auch stimme.
Avraham wendet sich sofort gegen den vermeintlichen Plan. Er fragt G’tt, ob Er ernsthaft erwäge, Gerechte mit Ungerechten zusammen zu töten. Dies sei eines Richters wie Ihm nicht würdig. Was G’tt von diesem Einwand hält, erfahren wir nicht, aber Er reagiert auf Avraham. Er bietet ihm an: Wenn er 50 Gerechte fände, würde die Stadt um ihretwillen verschont.
Avraham spricht G’tt ein weiteres Mal an und fragt, wie es denn aussähe, wenn es nur 45 Gerechte gäbe. Auch hier ist G’tt einverstanden, die Stadt zu verschonen. Danach geht es zu wie auf einem orientalischen Basar – es wird gehandelt, bis G’tt bereit ist, die Stadt wegen zehn Gerechter nicht zu vernichten. Wie wir später sehen werden, gibt es selbst diese nicht – sodass die Städte vernichtet werden und heute auf dem Grund des Toten Meeres liegen.
Hier kommen wir zur zweiten Frage, die von vielen Menschen gestellt wird. Warum setzt Avraham sich so sehr für Menschen ein, die ihm völlig fremd sind? Bei Jitzchak gehorcht Avraham G’tt sofort, doch in Sodom und Amorra hilft er Unbekannten.
Um Antworten auf unsere Fragen zu bekommen, müssen wir die Tora zunächst verlassen und uns einer aramäischen Übersetzung zuwenden, dem Targum Jonathan (einer Toraübersetzung mit rabbinischen Kommentaren, abgeschlossen um das Jahr 800 n.d.Z.). Dort finden wir G’ttes Aufforderung an Avraham als Dialog. G’tt spricht zu Avraham: »Nimm deinen Sohn!« Avraham fragt: »Welchen?« G’tt sagt: »Deinen einzigen!«
Avraham entgegnet: »Ich habe zwei Söhne.« G’tt sagt: »Deinen Erstgeborenen!« Avraham erwidert: »Jeder einzelne ist der Erstgeborene seiner Mutter!« Daraufhin sagt G’tt: »Den Jitzchak!«, und lässt Avraham damit keine Option mehr. Wir sehen: Avraham hat also doch versucht, G’tt zu zeigen, dass die Sache so einfach nicht ist, und er hat sich, im Rahmen seiner Möglichkeiten, durchaus für seinen Sohn eingesetzt.
Krieg Nun haben wir aber noch die Frage zu beantworten, warum sich Avraham so sehr für Fremde einsetzt. Die Antwort darauf finden wir in unserer aktuellen Parascha. Wir lesen in Kapitel 14 über einen Krieg, der den gesamten Nahen und Mittleren Osten betraf: Die vier mächtigsten Könige der damaligen Zeit griffen fünf kleine Königreiche an, die abtrünnig geworden waren. Diese kleinen Reiche verlieren natürlich, und einige Menschen werden gefangen genommen.
Unter den Gefangenen befindet sich auch Avrahams Neffe Lot. Avraham zieht mit einigen wenigen Leuten los, um ihn zu befreien. Nach seiner erfolgreichen Mission – sie haben Beute und Gefangene gemacht – bietet ihm einer seiner Verbündeten, der König von Sodom, an, die Gefangenen behalten zu wollen, wenn Avraham die restliche Beute nehmen wolle. Avraham lehnt die Beute zwar ab, überlässt dem König von Sodom aber die Gefangenen. Soweit der Text der Tora.
Die Rabbiner sehen in dieser Handlung Avrahams den Grund für seine Bestrafung, die nämlich lautet, dass seine Nachkommen zwar zahlreich werden sollen, jedoch über 200 Jahre lang selbst in Gefangenschaft verbringen werden. Was genau hat Avraham, der damals noch Avram hieß, hier falsch gemacht?
Der Name des Königs von Sodom ist Bera. Die Rabbinen lesen: Be-Ra, auf Hebräisch heißt das »im Bösen«. Dieser König und seine Stadt sind das Schlechteste, was es in der ganzen Region gibt. Alles, was dieser König tut, ist schlecht und böse. Avrahams Schuld ist, dass er die Gefangenen in den Händen des bösen Königs lässt, anstatt wenigstens einige von ihnen für sich zu beanspruchen und sie im Wege G’ttes zu unterweisen.
Lasterhaft Als Avraham sieht, dass G’tt Sodom vernichten will, erinnert er sich an die vielen Unschuldigen, die als Gefangene nach Sodom geführt wurden: Durch den Einfluss der dortigen Menschen führen sie jetzt vielleicht ein lasterhaftes Leben, doch im Grunde ihres Seins sind sie gute und gerechte Menschen oder könnten es zumindest werden. Weil er sich damals an diesen Menschen schuldig gemacht hat, setzt er sich jetzt derart stark für sie ein, dass er G’tt widerspricht und sogar mit ihm handelt.
Wir sehen an diesem Beispiel, dass es zu den bekannten und beliebten Erzählungen der Tora und des Tanach oft eine Vorgeschichte gibt. Die kann erklären, warum die Protagonisten so handeln, wie sie es tun, und uns viele Fragen beantworten. Es lohnt sich also, die unwichtig erscheinenden Zwischenspiele und Überleitungen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Und wo selbst dies nicht hilft, verfügen wir über einen unermesslichen Schatz rabbinischer Kommentare und mündlicher Überlieferungen, die größtenteils schriftlich niedergelegt sind. Dieses reiche Erbe zu ergründen und zu erkunden und es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist unser aller Recht und Pflicht. Wer des Hebräischen und Aramäischen (noch) nicht mächtig ist, kann heutzutage auf russische, deutsche oder englische Übersetzungen zurückgreifen. Wer nicht weiß, wo er beginnen soll: einfach mittendrin, alles Weitere kommt fast von allein. Ihr örtlicher Schriftgelehrter hilft Ihnen sicher gerne dabei.
Der Autor ist rabbinischer Studienleiter des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks (ELES).
Inhalt
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Avram, Sarai und Lot ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kanaan ziehen. Eine Hungersnot führt sie weiter nach Ägypten. Um sein Leben zu retten, gibt Avram dort Sarai als seine Schwester aus. Sie müssen Ägypten verlassen. Avrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Avram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Avraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jeder männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27