Am vergangenen Schabbat haben wir am Ende des letzten Wochenabschnitts (4. Buch Mose 25, 1–9) vom dramatischen geistigen und moralischen Verfall des jüdischen Volkes gelesen. In dieser Situation nimmt Aharons Enkel Pinchas einen Speer und tötet Simri, einen Fürsten aus dem Stamm Schimon, und die moabitische Priesterin Kosbi, während die beiden unverfroren G’ttes Namen entheiligen.
Der Talmud (Sanhedrin 82a) erklärt, dass Simri und Kosbi mit ihrem obszönen Verhalten auch Mosches Autorität infrage stellen: »Er (Simri) brachte sie (Kosbi) vor Mosche und sprach zu ihm: Sohn Amrams, ist diese verboten oder erlaubt? Und wer hat dir, wenn du sagst, sie sei verboten, erlaubt, die Tochter Jitros zu heiraten?«
Provokation Simri stellt es also so dar, als ob Mosche, obwohl er selbst mit einer Midianiterin verheiratet ist, dem Rest des Volkes Beziehungen mit Ausländern verbieten möchte. Simri will provozieren und Mosche als Heuchler darstellen – was ihm auch gelingt. Im Talmud heißt es dazu: »Da entschwand ihm (Mosche) die Halacha (die Autorität), und das ganze Volk brach in ein Weinen aus.« Mosche schafft es also offenbar nicht, in dieser Situation angemessen zu reagieren – ganz im Gegenteil: Er reagiert überhaupt nicht.
In diesem Moment springt Pinchas ein und verteidigt die Würde G’ttes und die Autorität Mosches. Seine Wut und die damit einhergehende harsche Reaktion ist verständlich, denn immerhin ist Pinchas ehrlich besorgt über die Zukunft des jüdischen Volkes, das dem geistigen, moralischen und auch strukturellen Verfall nahe zu sein scheint.
Der Midrasch (Bemidbar Rabba 21, 3–4) lobt Pinchas, dass er da, wo Mosche und die Ältesten versagen, die Verantwortung übernimmt. Für den Midrasch war Pinchas’ Töten ein Akt der Selbstverteidigung.
In den Büchern Richter und Jehoschua lesen wir, dass Pinchas wichtige Positionen innehatte. Der Rambam, Maimonides (1038–1204), schreibt in der Einleitung zu seiner Mischne Tora, dass es Pinchas war, der die mündliche Überlieferung von Mosche empfing und an Eli, den Hohepriester, weitergab.
Laut dem Talmud (Sanhedrin 82b) erlebte Pinchas sechs Wunder, die es ihm ermöglichten, die beiden Sünder zu bestrafen. Und »darauf kam er und schleuderte sie vor G’tt, indem er vor Ihm sprach: ›Herr der Welt, wegen dieser sollen 24.000 in Israel sterben?‹ (...) Worüber Rabbi Elasar sagte: Es heißt nicht, er betete, sondern er richtete. Dies lehrt, dass er mit seinem Schöpfer Gericht hielt«.
Ist die übereifrige Mordtat aber wirklich gerechtfertigt? Genau damit beschäftigt sich der heutige Wochenabschnitt – sozusagen als Fortsetzung der Geschichte.
Belohnung Auf den ersten Blick scheint es so, als werde die Tat gerechtfertigt. Statt einer Strafe erhält Pinchas zwei Belohnungen. G’tt sagt: »Siehe, Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens. Ihm und seinen Nachkommen werde für alle Zeiten ein Bund des Priestertums sein, dafür, dass er das Recht für seinen G’tt zur Geltung gebracht und Sühne über Israels Söhne vollzogen hat« (4. Buch Mose 25, 12–13).
Ein genauerer Blick offenbart jedoch einige Ungereimtheiten. Der berühmte sefardische Bibelkommentator Abarbanel (1437–1508) fragt sich, warum Pinchas einen Bund des Friedens und einen Bund des Priestertums braucht. Hat er denn nicht schon beides, Frieden und Priestertum? Ist das deshalb wirklich eine Belohnung für ihn?
Der Neziv, Rabbi Naftali Zwi Jehuda Berlin (1816–1893), schreibt in seinem Kommentar Ha’emek Davar: »Die g’ttliche Verheißung eines Bundes des Friedens stellt eher eine Garantie des Schutzes gegen den inneren Feind dar, der im eifrigen Täter und in der plötzlichen Tat lauert, gegen die innere Demoralisierung.«
Weiter erklärt der Neziv, wie gefährlich Fanatismus ist, und dass Pinchas mit dem Attribut des Friedens gesegnet wurde, in der Hoffnung, dass er künftig nicht mehr so aufbrausend und wütend handeln würde.
Ein Blick in den Text der Tora offenbart noch eine weitere Anomalie: Der hebräische Buchstabe »Wav« im Wort »Schalom« in Vers 25,12 (als G’tt Pinchas den Bund des Friedens gibt) ist gebrochen – mit Absicht. Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Pinchas’ Verständnis von Frieden nicht vollständig war und G’tt es »reparieren« musste. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Weisen für die Parascha dieser Woche eine Haftara (Prophetenlesung) auswählten, in der das pflichteifrige Verhalten des Propheten Elia (Elijahu HaNavi) kritisiert wird.
Motive Für mich ist die Botschaft klar: G’tt straft Pinchas zwar nicht, da Er seine Motive für die Tat versteht. Aber Er gibt ihm den Bund des Friedens als ein klares Zeichen dafür, dass nicht Eifer, sondern Ruhe und Besonnenheit wirksame Mittel gegen die Probleme sind, die wir bewältigen müssen.
Die Herausforderungen des Judentums – damals wie heute – sind groß und zahlreich, aber Fundamentalismus oder übereifriger Extremismus sind der falsche Weg. Extreme Zeiten rechtfertigen keine extremen Maßnahmen. Wenn wir als jüdisches Volk auch im 21. Jahrhundert überleben wollen, müssen wir den Anfechtungen gewachsen sein. Und wir werden sie schließlich auch bewältigen – friedlich, besonnen und klug.
Die Diskussionen des Talmud reflektieren dieses Selbstverständnis. Sie zeigen, dass wir keine Dogmen und keine »einzig richtige Wahrheit« haben. Im Gegenteil, manchmal gibt es mehr als eine Wahrheit, und manchmal ist für G’tt mehr als nur ein Weg akzeptabel, wie uns der Talmud anhand der Streitgespräche zwischen den großen Weisen Hillel und Schammai lehrt: »Beides, diese und diese, sind die Worte des lebendigen G’ttes« (Eruwin 13b).
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Pinchas berichtet von dem gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn G’ttes abwenden konnte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Am Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
4. Buch Mose 25,10 – 30,1