Slichot

Schlaflos beim Minjan

Slichot-Gebete an der Kotel in der Altstadt von Jerusalem Foto: Flash 90

Wer sich unter den Besuchern des täglichen Minjans umschaut, merkt in diesen Tagen, dass die Mitglieder sefardischer Synagogen ein wenig an Schlafentzug zu leiden scheinen. In wenigen Tagen werden auch die Aschkenasen schlaflos sein, denn in das Pensum der täglichen Gebete wird dann frühmorgens oder spätabends ein zusätzlicher G’ttesdienst eingegliedert: die Slichot.

Bußgebete Aschkenasische Juden fangen an diesem Samstagabend, dem 21. September, oder am Sonntagmorgen, dem 22. September, damit an, die Bußgebete zu sprechen.Slichot sind Verzeihungsbitten, die an besonderen Tagen im Gebet hinzugefügt werden. Sefarden sprechen sie seit Anfang des Monats Elul, während Aschkenasen erst am Sonntagmorgen oder Samstagabend vor Rosch Haschana damit anfangen, oder in manchen Fällen eine Woche vorher, damit man wenigstens vier Tage vor Rosch Haschana mit den Slichot beginnen kann.

Brauch Die Ursprünge dieses Brauches reichen bis ins frühe Mittelalter zurück. Schon in den Zeiten der babylonischen Geonim (6. bis 11. Jahrhundert) finden wir unterschiedliche Bräuche, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisierten und jeweils zu denen der Aschkenasim und der Sefardim entwickelten.

Der Hauptgedanke des Brauchs ist, nicht bis zum letzten Moment zu warten, um Reue zu zeigen und umzukehren, sondern die Initiative zu ergreifen, sich bereits einige Tage zuvor vom Geist, von der Atmosphäre und von den Melodien der Hohen Feiertage berühren zu lassen.

Der Hauptgedanke ist: Man soll Reue nicht erst im letzten Moment vor Jom Kippur zeigen.

Wallfahrt Jüdische Feiertage vereinen in sich mehrere Schichten der Deutung. So sind bekanntlich die drei Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot sowohl Jubiläen historischer Ereignisse (Auszug aus Ägypten, Offenbarung am Berg Sinai, 40 Jahre Wüstenwanderung) als auch landwirtschaftliche Dankesfeiern (Fest des Säens, Fest des Getreideerntens und das Ernteabschlussfest). Die geistige Deutung von Jom Kippur ist wohl bekannt, es ist das Fest der g’ttlichen Vergebung; wer in sich geht und seine Sünden bereut, der kann mit Verzeihung rechnen. Hat Jom Kippur aber auch eine historische Deutung?

Nach der Offenbarung am Berg Sinai lehrt die Tora (2. Buch Mose 21–23) Zivil- und Kriminalgesetze. Anschließend folgen (im 23. Kapitel des 2. Buches Mose) einige Verse mit religiösen und rituellen Gesetzen, insbesondere diejenigen der drei Wallfahrtsfeste (Verse 15–17).

Doch Rosch Haschana und Jom Kippur fehlen an dieser Stelle. Erst im 3. Buch Mose 23 lernen wir etwas über die Hohen Feiertage – warum? Möglicherweise, weil sich damals der historische Grund für Jom Kippur noch nicht ereignet hatte.

Sinai Erst 40 Tage nach der Offenbarung am Berg Sinai versündigte sich das Volk mit der Errichtung des Goldenen Kalbs. 40 Tage lang bat Mosche G’tt um Gnade, während das Volk wie unter einem Bann lebte. Dann stieg er abermals auf den Berg Sinai hinauf und versuchte, die Beziehung des Volkes zu G’tt wiederaufzubauen.

Am 40. Tag seines letzten Besuches auf dem Berg, 120 Tage nach der Offenbarung am Berg Sinai, am zehnten Tag des Monats Tischri (dem späteren Jom-Kippur-Tag) kam Mosche vom Berg mit der Nachricht herunter, dass G’tt dem Volk vergeben hatte und wieder in seine Mitte ziehen würde. Dafür solle das Volk G’tt ein Heiligtum bauen: das Stiftzelt.

Elul Die letzten 40 Tage, die Mosche auf dem Berg verbrachte, sind die 40 Tage vom ersten Tag von Rosch Chodesch Elul bis Jom Kippur. Es ist eine Zeit, um unsere Beziehung zu G’tt wiederaufzunehmen.

Wer seine Eltern seit Monaten nicht gesehen hat und zu Besuch kommt, bleibt ja auch nicht lediglich zwei Stunden, sondern verbringt mehrere Tage mit ihnen oder besucht sie öfters. Das ist das, was wir während der zehn Bußtage und sogar während des Monats Elul tun. Die Slichot bilden einen wesentlichen Teil der Pflege unserer Beziehung.

Wann spricht man die Slichot? Am liebsten ganz früh am Morgen. Es ist aber erlaubt, ab der astronomischen Mitternacht die Slichot zu sprechen. So erinnere ich mich, wie ich als Kind jährlich am ersten Slichot-Abend die Bußgebete um 0.30 Uhr in der großen Synagoge in Antwerpen mit dem großen Chasan Benjamin Müller erlebte. Auch wenn ich noch ganz jung war, blieb ich bis zum Ende des G’ttesdienstes um 1.15 Uhr in der Synagoge. Eine Fernsehcrew war immer dabei, damit die Gebete tagsüber ausgestrahlt werden konnten.

Am besten spricht man die Slichot früh am Morgen. Erlaubt ist es ab Mitternacht.

Auf YouTube sind viele Aufnahmen der sefardischen Slichot um Mitternacht an der Kotel zu finden. Zigtausende Menschen versammeln sich, um gemeinsam die Slichot zu singen. Weil es aber schwierig ist, so spät noch einen Minjan zusammenzubekommen, erlauben manche Autoritäten mit Ach und Krach, die Slichot etwas früher am Abend zu sprechen.

Pismon Allerdings sagen Aschkenasen am ersten Slichot-Abend im sogenannten Pismon (einer Gedichtsform): »Rezej Atiratam be’ammedam balejlot« (»Empfange wohlwollend das Gebet derer, die während der Nacht aufstehen«). Auch die Sefarden sagen »Kamti be-Aschmoret« (»Ich bin während der Nacht aufgestanden«). Viele Gemeinden sprechen die Slichot also auch am ersten Tag frühmorgens.

Die aschkenasischen Slichot bestehen aus einer Einführung, in der mit Versen aus dem ganzen Tanach, der Hebräischen Bibel, eine bewegende Verzeihungsbitte gewoben wird, wie zum Beispiel: »Die Seele ist Deine, auch der Körper ist Deiner, erbarme Dich (der Schöpfung) Deines Mühsals.« Danach werden verschiedene Gedichte rezitiert, auf die ein Sündenbekenntnis und Schlussgebete folgen. Am Anfang und am Ende der Slichot wird vom Vorbeter ein Kaddisch gesprochen.

Den Höhepunkt bildet der Pismon. Jede Strophe wird erst von der Gemeinde und danach vom Vorbeter gesungen. Damit die Slichot uns wirksam inspirieren, werden passende traditionelle Melodien verwendet, von denen kaum abgewichen wird.

Heitere Melodien machen die Gebete nicht schöner, sondern drohen vom tiefen und berührenden Inhalt abzulenken. Alles hat seine Zeit, auch die heiteren Melodien, nicht aber während des Pismons.

Ne’ila An Jom Kippur werden in der Wiederholung der Stehgebete (und am Vorabend nach dem stillen Stehgebet, der Amida) Slichot und ein Sündenbekenntnis gesprochen. Während des Ne’ila-Schlussgebets des Feiertags werden im aschkenasischen Brauchtum bei den Slichot Auszüge aus den verschiedenen Pismonim gesungen, die jeweils in den etwa zwei Wochen zuvor gesprochen wurden.

Dabei verwendet der Vorbeter für jeden Auszug jene traditionelle Melodie, die während der Slichot beim ganzen Pismon gesungen wurde. So erinnern wir uns am Ende von Jom Kippur an all diese schlaflosen Momente, in denen wir vor G’tt Reue zeigten und Seine Nähe suchten.

Der Autor ist orthodoxer Rabbiner in Wien.

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