Die Sammlung der Werke des Gaons von Vilna (auch Gra genannt, 1720–1797) heißt Even Schleima. Dabei bedeutet Even »Eliyahu ben«, und das Wort »schleima« kann als »Schlomo« gelesen werden. Der Name des Gaons von Vilna lautete: Eliyahu ben Shlomo.
Er vertrat immer die These, dass wir beim sorgfältigen Blick in die Tora stets Anspielungen auf die Geschehnisse entdecken können, die nicht nur mit dem jüdischen Volk insgesamt, sondern sogar mit einzelnen Personen zu tun haben. Also deutet uns die Tora Ereignisse an, die Jahrhunderte, sogar Jahrtausende nach ihrer Übergabe geschehen. Sein bekanntester Schüler, Reb Chaim von Wolozhin (1749–1821), fragte ihn einmal, wo in der Schrift der Hinweis auf den Gaon aus Vilna zu finden sei.
Der öffnete sofort die Tora im Wochenabschnitt Ki Tetzei und fing an, ihn sorgfältig zu studieren, bis er den Ausdruck »even schleima« bemerkte. Reb Chaim fragte den Gra, warum er ausgerechnet in diesem Wochenabschnitt gesucht hätte. Woraufhin der antwortete, dass es im fünften Buch der Tora (Dewarim) zehn Wochenabschnitte gebe. Und jeder dieser zehn Abschnitte entspreche jedem der zehn Jahrhunderte des »sechsten Millenniums«.
Jahrtausend Den Weisen des Talmuds zufolge wird die Welt (im gegenwärtigen Zustand) 6.000 Jahre existieren. Jedes Jahrtausend symbolisiert einen Wochentag. Und nach den 6.000 Jahren wird der Schabbat, das messianische Zeitalter eintreffen. Weiter erklärt der Talmud die Aufteilung der 6.000 Jahre. Die ersten 2.000 werden als »Tohu« bezeichnet. Das war die Zeit, als der Monotheismus der Menschheit noch nicht bekannt war. Gemäß der Tora ist Awraham Awinu im Jahr 1948 nach der Welterschaffung geboren worden.
Und er fand seinen Weg zum einzigen G’tt im Alter von 52 Jahren, also im Jahr 2000. Das führte die zweite Einheit von 2.000 Jahren ein, die zwei Millennien der Tora (Entwicklung). Das Jahr 4000 endete im Jahr 240 der allgemeinen Zeitrechnung. Rabbi Yehuda Hanasi, der die Mischna editierte, starb im Jahr 220, so scheint das Jahr 240 dem Ende der Periode der Tanaim (Rabbiner aus der Zeit der Mischna) zu entsprechen. Die folgenden 2.000 Jahre werden als die »Tage von Maschiach« be-zeichnet, weil Maschiach in jedem Moment kommen kann.
Rabbi Akiva, der gedacht hat, dass Bar Kochba der potenzielle Messias sei, war sich dieser mündlichen Tradition nicht bewusst. Seine Zeitgenossen widersprachen seiner Meinung und sagten, dass er, Rabbi Akiva, längst tot und begraben sein und Gras auf seinem Grab wachsen würde, und die Zeit für Maschiach immer noch nicht reif sei.
Weil ihre Tradition besagte, dass der Maschiach in einer Zeit während der letzten 2.000 Jahre des 6.000-jährigen Planes der Welt ankommen muss. So begann gemäß der talmudischen Tradition das sechste Millennium mit dem Jahr 1240. Als Reb Chaim seinen Lehrer darum bat, eine Andeutung auf ihn in der Tora zu finden, war es nach dem Jahr 1740.
Paraschat So erklärte der Gra, was auch immer im ersten Jahrhundert des sechsten Millenniums vorkam, also zwischen den Jahren 1240 bis 1340, sollte in Paraschat Dewarim zu finden sein. Das zweite Jahrhundert, also zwischen den Jahren 1340 und 1440, sollte im zweiten Wochenabschnitt, Paraschat Va’etchanan angedeutet werden. Und da der Gaon aus Vilna im sechsten Jahrhundert des sechsten Millenniums lebte, öffnete er sofort Paraschat Ki Tetzei, den sechsten Wochenabschnitt im Buch Dewarim.
Geschichte Der Wochenabschnitt Ki Tavo ist der siebte Wochenabschnitt im Buch Dewarim. Dem vorherigen Gedanken folgend, sollte er Andeutungen auf die Geschehnisse enthalten, die zwischen den Jahren 1840 und 1940 vorgekommen sind. Am Ende der 1930er Jahre hatten die Nazis bereits ihre Ausrottung der Juden begonnen. Vielleicht könnte die bittere »Tochacha« (Zurechtweisung), die in Ki Tavo erscheint, nicht nur eine Anspielung auf die vielen Jahre des Leidens im Exil, sondern auch spezifisch ein Hinweis auf die Verfolgungen am Ende der 30er-Jahre sein.
Und so schreibt Rabbi Herschel Schachter, der Rosch Yeschiwa der Yeschiwa University, dass in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen wird, dass im folgenden, dem achten Wochenabschnitt, Paraschat Nitzavim und Vayelech, welche als ein Wochenabschnitt gezählt werden, wir von der Rückkehr der Juden nach Eretz Israel lesen, der großen Teschuwa-Bewegung und der Mizwa, eine Sefer Tora zu schreiben.
Also sehen wir, dass die Tora uns Andeutungen auf viele verschiedene Aspekte unseres Lebens gibt und dass ihr Verständnis weitaus tiefer und umfangreicher sein kann als ihr Pschat, das einfache oberflächliche Verständnis des Textes.
Grösse Doch viele fragen sich, wie so vieles in ein »einfaches« Buch hineinpassen kann? Diese Frage wurde Rabbiner Simcha Wassermann von einem Besucher seiner wöchentlichen »Schiurim für Anfänger« gestellt: »Wie kann etwas Größeres in etwas Kleineres hineinpassen?« Mit anderen Worten: Es ist gegen die Gesetze der Natur, dass irgendetwas, das ein kleineres Volumen hat, etwas mit einem größeren Volumen enthalten kann. Eine sehr legitime Frage.
Raw Wassermann antwortete: »Machen Sie bitte ihre Augen zu und stellen Sie sich ein Boot vor«. Der Mann tat es. Der Rabbiner fuhr fort: »Stellen Sie sich jetzt ein riesiges Boot vor, ein Schiff, mit dem man Kreuzfahrten unternimmt.« Der Mann
nickte zustimmend. Daraufhin fragte der Rabbiner: »Wie haben Sie es geschafft, ein so riesiges Schiff in Ihren kleinen Kopf zu bekommen?«
Die Gesetze der Natur gelten nur für materielle Dinge, für die Spiritualität existieren keine physikalischen Grenzen. Und da unsere Tora spirituellen Ursprungs ist, gibt es überhaupt kein Problem damit, dass sie viel mehr enthält als das einfache Verständnis des Textes.
Wolle Und dies ist auch der Sinn der Geschichte eines der zehn Märtyrer, über den wir am Jom Kippur und dem 9. Aw lesen: Rabbi Chanina ben Tradion. Als er von den Römern hingerichtet wurde, hatten sie ihn in eine Torarolle gebunden und auf seine Brust Wolle gelegt, um sicherzugehen, dass er nicht zu schnell verbrennen würde.
Als ihn während der Verbrennung die Schüler des Rabbiners fragten, was er sehen würde, erwiderte er: »Das Pergament brennt zwar, doch die Buchstaben fliegen in die Luft.« Er meinte damit, dass das Einzige, was die Römer zerstören konnten, eine bloße Materie war, das Pergament oder sein Körper. Doch die Ideen der Tora sowie ihre Lehren werden immer weiter existieren, denn man kann nicht das Geistige auf eine körperliche Weise zerstören.
Und so sagen unsere Weisen, dass man alles in der Tora finden kann. Man muss sie nur richtig lesen können.
Der Autor ist Assistenzrabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. Der Text enthält Auszüge des von ihm verfassten Buches »Die moderne Welt durch die Brille der Tora«, Verlagshaus Schlosser, Friedberg 2011.