Essay

Theologische Anfragen an die Gedenkkultur

Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur für den Staat Israel und die jüdische Gemeinschaft weltweit. (Symbolfoto) Foto: picture alliance / NurPhoto

Am 27. Januar 2024 jährte sich zum 79. Mal der Tag der Befreiung von Auschwitz. 7.600 Überlebende fanden die Infanteristen der 322. Infanteriedivision der 60. Armee der I. Ukrainischen Front noch vor: 7.600 Menschen, die noch am Leben waren, die aber ihr Leben fortan mit der Erinnerung an die Massenmörder verbringen mussten.

Nach dem 7. Oktober 2023, in Israel der Festtag Simchat Tora 5784, wird es uns einmal mehr schmerzlich bewusst, dass es nun wieder und inmitten unseres »normalen Lebens« Überlebende gibt, die mit der Erinnerung leben müssen, dass Juden nur deshalb umgebracht wurden, weil sie Juden waren.

Damit wird ihr Leben fortan auch eines sein, das durch die Erinnerung an die Mörder geprägt sein wird. Und wie damit umgehen? Die Psychologie hat hier schon Erfahrungen und erste Antworten zu bieten. Was kann die jüdische Theologie sagen?

Prototyp des Feindes

Schon in der Tora, aber auch in anderen Texten der Bibel ist Amaleq der Feind par excellence. Immer wieder stellt er sich Israel entgegen. Die biblischen Überlieferungen über Amaleq waren dabei offenbar sehr einprägsam, denn in der späteren jüdischen Tradition wird Amaleq als Prototyp des Feindes Israels herausgestellt und viele Feinde genealogisch auf ihn zurückgeführt.

So hat die Tradition auch Haman, den Agagiter, den Gegenspieler Mordechais aus dem Buch Ester, direkt von den Amaleqitern abstammen lassen. Ebenso wurde auch Rom mit Amaleq verglichen. Für Samson Raphael Hirsch (1808–1888) war Amaleq der Feind, der nicht nur unprovoziert angreift, sondern sich auch durch besondere Brutalität auszeichnet:

»Du ... hattest gar keine Veranlassung einen feindlichen Ueberfall zu vermuthen. Sein Angriff war völlig unprovocirt, war von purer Freude an Menschenschlächterei ... getrieben ... Ihn lud somit nicht Schwäche zu Mitleid und Schonung, sondern zu roher, höhnender Mißhandlung« (Samson Raphael Hirsch zu Deut 25:18, in: Der Pentateuch, Fünfter Theil: Deuteronomium, Frankfurt/M. 1878, 448).

Freude an Menschenschlächterei

Spätestens nach dem 7. Oktober 2023 kennt das Gedenken an Amaleq ein weiteres, grausiges Ereignis, das es für das jüdische Volk zu verarbeiten gilt, und das Hirsch hier gleichsam und sehr zielsicher im Rückblick auf eine 2000-jährige Exilexistenz Israels vorweggenommen hat: Das unprovozierte Morden, getrieben von purer Freude an Menschenschlächterei.

Der biblische Text spricht nun an zwei Stellen in etwas kryptisch anmutender Formulierung vom »Auslöschen« der Erinnerung Amaleqs: Ex 17:14: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Schreib dies zum Gedächtnis in das Buch und lege in die Ohren Yehoshuas, dass ich das Andenken Amaleqs unter dem Himmel ganz sicher auslöschen will.«

Deut 25:17–19: »Gedenke dessen, was dir Amaleq auf dem Weg antat, als ihr aus Ägypten auszogt: Er, der dir auf dem Weg begegnete und all deine Nachzügler schlug, als du müde und matt warst – (er, der) Gott nicht fürchtete! Und wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum in dem Land, das der Ewige, dein Gott, dir als Erbteil gibt, um es in Besitz zu nehmen, dann sollst du immer wieder die Erinnerung an Amaleq unter dem Himmel auslöschen. Vergiß nicht!«

Performativer Sprechakt

Die jüdische Gemeinschaft hat diese Aufforderung zunächst einmal in der Weise eingelöst, dass die Amaleq-Texte in zwei Tora-Abschnitten sowie an Schabbat Sachor, das ist der Schabbat, der dem Purimfest vorangeht, gelesen werden. Das »Auslöschen« des Andenkens an Amaleq wird also in gewisser Weise zu einem performativen Sprechakt, der in regelmäßiger Wiederholung an den »Angstgegner« erinnert.

Und dies wird wohl auch noch eine Weile so bleiben, denn die biblische Aufforderung sagt ja »Wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat in dem Land, das der Ewige, dein Gott, dir als Erbteil gibt ...«  – Bis das der Fall ist, soll man »die Erinnerung an Amaleq unter dem Himmel auslöschen«.  Aber was heißt denn das? Der mittelalterliche Bibelkommentator R. Schlomo Jitzchaqi (Raschi) erklärt ad loc.:

»Gedenke dessen, was dir (Amaleq auf dem Weg) antat: Wenn du treulos bist mit Maßen und Gewichten, dann sei besorgt, dass Du dem Feind (keinen) Anreiz (bietest), denn es heißt: Trügerische Waagschalen sind dem Ewigen ein Greuel (Prov 11,1), und danach heißt es: Kommt Hochmut, kommt auch Schande (Prov. 11,2; cf. Tanchuma 8)«.

Narratives Echo

Was Raschi an dieser Stelle vielleicht noch im Sinn hatte (cf. bSan. 55a–b), ist hier erst einmal nicht wichtig; wichtig ist, dass für Raschi das ›Sachor! Gedenke!‹ zunächst eine Selbstreflexion beinhaltet. Offenbar geht es ihm nicht einfach darum, sich die Gräueltaten der anderen ständig vor Augen zu führen. In Raschis Erklärung des »Gedenke dessen, was dir (Amaleq) antat« kommt Amaleq gar nicht vor.

Diese Art des Erinnerns, bei der die politischen Akteure ausgeblendet werden,  finden wir schon in den biblischen Schilderungen der Tempelzerstörung, wie beispielsweise beim Propheten Jechesqel (Ezechiel; Ez 9-11), aber auch in den Berichten und liturgischen Dichtungen als narratives Echo zu den Kreuzzügen und den damit verbundenen Judenmassakern in Mainz und an vielen anderen Orten. So findet sich auch bei Simon Hirschhorn zum piyyuṭ »Die Stimme ist die Stimme Jakobs« des Qalonymos ben Yehuda die Beobachtung:

»Die Christen, die die Quelle der Verfolgung ... sowie das Objekt der erhofften Vergeltung ... sind, [werden] im entscheidenden Mittelteil, der Beschreibung des Martyriums, nicht erwähnt. Es ist, als ob sie nicht vorhanden wären, bloße Werkzeuge im Plan Gottes, der sich ausschließlich zwischen ihm und seinem Volk Israel entfaltet« (Simon Hirschhorn, Tora, wer wird dich nun erheben? [Gerlingen: Lambert Schneider 1995] 26).«

Deutungs-  und Handlungshoheit

Wir finden diesen Gedanken auch im Musaf-Gebet zu den drei Wallfahrtsfesten Pesach, Shavuot und Sukkot, wo es heißt »Wegen unserer Sünden wurden wir aus unserem Land verbannt«. Wir wissen heute natürlich, dass, historisch gesprochen, die Vertreibung der Israeliten/Judäer aus ihrem Land sowohl durch die Assyrer als auch durch die Babylonier nicht dadurch hätte verhindert werden können, dass man gesetzestreuer oder sozial rücksichtsvoller gewesen wäre.

Aber darum geht es auch gar nicht, sondern darum, dass die jüdische Tradition in der Literaturbildung der Exilsgemeinde, der gola, sich ganz offensichtlich nicht oder nicht nur in der Rolle des schwachen Opfers gegenüber den Goyyim, den Nicht-Juden, hat sehen wollen, sondern in den Narrativen des Gedenkens so etwas wie Deutungs-  und Handlungshoheit zurückerobern wollte.

Und diese Deutungs-  und Handlungshoheit sollte und konnte auch nur gegenüber Gott geltend gemacht werden, denn er ist der Bundespartner Israels, und nur ihm gegenüber ist Israel rechenschaftspflichtig. Und auch die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschlands hat sich in diese große Tradition gestellt, indem sie ihre Tefilla le-Schalom be-Jisrael (»Gebet für den Frieden in Israel«) nach dem 7. Oktober mit Awinu Malkenu einsetzen ließ, dem wichtigsten Gebet zu den hohen Feiertagen Rosh Haschana und Yom Kippur, gefolgt von Buß- und Klagepsalmen und Bittgebeten, obwohl es wohl kaum jemanden in der jüdischen Gemeinschaft gab, der oder die nicht gerne einige der besonders krassen biblischen Rachepsalmen gebetet hätte.

Göttliches Handeln

Es ist daher sicher kein Zufall, dass die Formulierung »Gedenke dessen, was ... antat, als ihr aus Ägypten auszogt« zweimal in der Bibel vorkommt, einmal in Deut 24:9 (»Gedenke dessen, was der Ewige, dein Gott Mirjam tat, auf dem Weg, als ihr aus Ägypten auszogt«) sowie einmal in Deut 25:17 (»Gedenke dessen, was dir Amaleq auf dem Weg antat, als ihr aus Ägypten auszogt«).

Im ersten Fall ist der Ewige das Subjekt, im zweiten Amaleq. Im Fall Mirjams war das göttliche Handeln provoziert, weil unter den Geschwistern Streit aufkam, indem Mirjam und Aharon gegen Mosche rebellierten. Bei Amaleq muss man konstatieren, dass das kriegerische Treiben Amaleqs unmotiviert war, wenn man nicht schon Israels bloße Existenz als Provokation für Amaleq deuten möchte.

Warum Amaleq angreift, ist aber nicht aufs erste ersichtlich: Es braucht dafür ein weiteres Narrativ, um damit umgehen zu können, und ein solches Narrativ muss von Israel durch die Zeiten hindurch je eigens und immer wieder neu entwickelt werden. Dazu gehört auch die Sprachlosigkeit nach den Taten Amaleqs, ein Nicht-Narrativ, eine Leerstelle, die aber auch nur Israel aufstellt und nur Israel auch wieder zu füllen vermag.

Theologische Lösungen

Im »Sachor! Gedenke!« ist Israel auf sich (und seinen Gott) zurückgeworfen, es muss ein ihm eigenes Narrativ entwickeln im Umgang mit all den anderen, die ihm Böses wollten und wollen. Das antike und mittelalterliche Judentum hat hier, wie oben beschrieben, vor allem theologische Lösungen aufgeboten, die aber auch schon von den eigenen Zeitgenossen manchmal nicht einfach zu akzeptieren waren.

So schreibt R. David Qimchi (Radaq) zu Ps 22:17: »(...) denn wir haben kein Gebiet, um mit unseren Füßen (dorthin) zu fliehen und mit unseren Händen (darum) zu kämpfen.« Radaq beschwert sich in seinen Auslegungen immer wieder bei Gott über das Los der Juden. So manche Narrative enden eben auch in der Verzweiflung, aber es sind die eigenen Narrative, und sie gehören zu Israels Tradition zwingend dazu.

Niemals aber wäre es wohl den Juden und Jüdinnen der Antike, des Mittelalter wie noch des 19. Jahrhunderts in den Sinn gekommen, mit Amaleq gemeinsam zu gedenken. Die Aufforderung an Israel ist, »die Erinnerung an Amaleq unter dem Himmel auszulöschen«, das heißt, ein eigenes, jüdisches Narrativ und eine Deutungs- und Handlungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen, um Amaleq zu überwinden.

Unzulässige Vermischung

Amaleqs Präsenz wird nicht benötigt – im Gegenteil, sie soll ja in Israels Bewusstsein irgendwann ausgelöscht sein! »Vergiß nicht!« bedeutet, die Erinnerung an Amaleq überwinden zu lernen.

Wenn Amaleqs Nachkommen auch gedenken, ist das sicher gut, aber die Selbstaufforderung zum Nicht-Vergessen besteht hier im Eingeständnis einer eigenen destruktiven Handlungshoheit, die dazu führte, dass Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ausgegrenzt, entmenschlicht, vergast und vernichtet wurden. So manche der Nachkommen des damaligen Amaleq schaut heute bestürzt und mit Scham zurück.

Das heißt aber nicht, dass man sich deshalb in ein gemeinsames Gedenken stellen kann, bedeutete es doch eine unzulässige Vermischung zweier völlig unterschiedlicher Narrative und die Vermengung zweier unterschiedlicher Gedenk-Gruppen, von denen die eine klagt und trauert, und die andere ihre Schuld bekennt, erstere zunächst fassungslos und stumm, dann ritualisiert (Yiskor), letztere bis heute auf der Suche nach einem adäquaten Ritual an einem adäquaten Ort.

Beide Gedenk-Gruppen richten sich aber nur an die eigene community. Ein gemeinsames Gedenken von Israel und Amaleq ist aus vielerlei Gründen kaum vorstellbar, und dies wird umso deutlicher, je näher die Amaleq-Erfahrungen Israels an die Gegenwart heranrücken. Und weil auch neben den Juden auch andere Gemeinschaften ihre je eigenen Verfolgungs- und Vernichtungs-Erfahrungen verarbeiten müssen, sind auch gemeinsame Gedenken unterschiedlicher Opfergruppen nicht sinnvoll, denn sie enden in Opferkonkurrenz, Nivellierung und damit verbundenen erneuten Schmerzerfahrungen auf allen Seiten.

Die jüdische Aufforderung »Gedenke dessen, was dir Amaleq auf dem Weg antat«, ist daher auch eine Aufforderung an alle anderen, ihr eigenes Gedenken zu entwickeln, um traumatische Erfahrungen verarbeiten und überwinden zu können, jedenfalls solange, bis der Ewige uns (und allen anderen) Ruhe verschafft haben wird.

Die Autorin ist Professorin am Lehrstuhl für Bibel und Jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.

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