Auftrag

Ruf des Gewissens

Es ist nicht immer leicht, den Ruf des Ewigen zu hören. Und es ist noch schwerer, danach zu handeln. Foto: Marco Limberg

Gott ruft die Menschen gerne. Nein, er ruft sie nicht am Telefon an. Gott ruft. Gott ruft ständig. Auch die Menschen rufen Gott ständig. Diese Rufe nennt man Gebet. In der Bibel erhört und beantwortet Gott Gebete. Wenn Gott ruft und Rufe beantwortet, solltest du das dann nicht auch tun? Der erste Ruf Gottes in der Bibel ergeht an Adam und Eva, an jene Menschen, die nach göttlichem Ebenbild als Gottes Partner erschaffen wurden.

Und so hat es sich abgespielt (1. Buch Moses 2,15–3,18): Gott hatte Adam geschaffen und ihn in den Garten Eden gestellt. Dabei sagte Er ihm, er dürfe die Früchte aller Bäume essen, mit Ausnahme des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse. Dann beschließt Gott, dass es nicht gut ist, wenn der Mann allein sei. Daher gestaltet Gott eine Frau.

Eva hat zwar das Verbot nicht unmittelbar von Gott selbst vernommen, aber sie kennt es, als sie der Schlange begegnet, die ihr mit List und Tücke nahelegt, sie könne von dem Baum essen. Sie isst die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, und auch ihr Mann isst davon. Ihre Augen werden geöffnet, sie erkennen, dass sie nackt sind, und verstecken sich im Garten, als sie »den Hall des Ewigen, Gottes« hörten, »der beim Tageswind im Garten sich erging« (1. Buch Moses 3,8).

Ja, Gott stellt die allererste Frage in der Bibel: »Ayekah? – Wo bist du?« (1. Buch Moses 3,9) Bei dieser Frage geht es nicht einfach nur um den Aufenthaltsort. Es ist eine existenzielle Frage. Gott fragt nach der Beziehung Adams zu seinem Schöpfer. Gott hatte ihn angewiesen, etwas Bestimmtes nicht zu tun, aber Adam tat es trotzdem. Das war eine Verletzung ihrer Beziehung.

Zwischen den Zeilen höre ich einen zutiefst enttäuschten Gott heraus, der sagt: »Ich habe dir die Erlaubnis gegeben, alles, wirklich alles in diesem fantastischen Garten zu essen, außer der Frucht eines einzigen Baumes. Eines Baumes! Und du weißt nichts Besseres, als ausgerechnet davon zu essen. Dafür rufe ich dich zur Rechen- schaft ...«

Und Gott rief ihn tatsächlich dafür zur Rechenschaft. Gott ruft alle drei zur Rechenschaft, den Mann, die Frau und die Schlange. Gott verdammt die Schlange dazu, auf dem Bauch zu kriechen und Staub zu fressen. Gott macht für die Frau das Gebären schmerzhaft und das Beackern des Bodens zur Knochenarbeit für den Mann. Schließlich wirft Gott alle miteinander aus dem Garten Eden.

Gewissen Wo bist du? Wo bist du in deiner Beziehung zu Gott? Hörst du zu, wenn Gott ruft? Kannst du die zarte, leise Stimme des Gewissens hören, die dich bittet, das Richtige zu tun? Wirst du auf Gottes Ruf, sein Partner zu sein, antworten?

Wie Adam und Eva Gottes Ruf zur Rechenschaft gehört haben, so hörte Abraham den Ruf, zu seiner Reise aufzubrechen. Stelle dir einmal vor, Abraham hätte in einer Zeit gelebt, in der es bereits Telefon gegeben hätte.

Es klingelt. Abram (so lautete damals sein biblischer Name, der später zu Abraham geändert wurde) nimmt den Hörer ab. Die tiefe Stimme am anderen Ende sagt: »Geh.« In meiner Fantasie antwortet Abraham: »Was?« »Geh«, wiederholt die Stimme, »aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters ...« »Ach wirklich?«, könnte Abraham gedacht haben, als er die seltsame Stimme hörte. »Und wohin soll ich gehen?« »In das Land, das ich dich sehen lassen werde«, fährt Gott fort. Im biblischen Bericht freilich sagt Abraham nichts. Er schweigt.

Vielleicht wusste Gott, dass es Abraham schwerfallen würde, seinen Ruf zu akzeptieren. Deshalb fügt Gott einen Anreiz hinzu, der es Abraham leichter macht, die Reise auf sich zu nehmen. »Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den will ich verdammen, und mit dir sollen sich segnen alle Geschlechter der Erde« (1. Buch Moses 12, 2-3).

Wow! Reichtum, Ruhm, Segen, Schutz und Macht erwarten Abraham, wenn er den Ruf annimmt. In den nächsten Versen des Kapitels erfahren wir, dass Abraham ein wohlhabender Mann und zu dem Zeitpunkt, als Gottes Ruf an ihn erging, bereits 75 Jahre alt war. Er war verheiratet und hatte eine große Familie, mit der er sich eng verbunden fühlte. Doch dieser Mann, der später Gott noch herausfordern und mit ihm streiten wird, hört den göttlichen Ruf und befolgt ihn ohne die leiseste Widerrede. Die Bibel berichtet von Abrahams Reaktion auf den Ruf: »Da ging Abram, wie der Ewige zu ihm geredet hatte.« (1. Buch Mo-
ses 12,4 ). Wozu ruft Gott dich?

Blinde Kinder Meine Mutter Bernice vernahm in den 1950er-Jahren Gottes Ruf, sich für die blinden Kinder im US-Bundesstaat Nebraska einzusetzen. Ihre Freundin Pauline Guss hatte ihr erzählt, sie habe erlebt, wie Sparky Mandel, ein blinder junger Mann, einer Frauengemeinschaft am Ort dafür dankte, dass sie ein Gebetbuch in Braille-Schrift übersetzt hatten, damit er Barmizwa feiern konnte. Sie bat Bernice nachzufragen, ob man in ihrer Synagoge nicht eine Braille-Gruppe gründen könne. In kürzester Zeit war es so weit, und Mom und ihre Freundinnen veröffentlichten die erste englische Pessach-Haggada in Braille-Schrift.

Rasch ergab eines das andere. Mom erfuhr, dass es in Omaha acht blinde Kinder gab, die eigentlich die Vorschule besuchen sollten. Aber keine Einrichtung wollte sie aufnehmen. Sie wusste, dass die Vorschule in der Synagoge immer am Montag-, Mittwoch- und Freitagmorgen stattfand. Daher fragte sie ihren Rabbi Myer S. Kripke, ob die blinden Kinder nicht Dienstag und Donnerstag kommen könnten. Gesagt, getan.

Dann fand sie, dass den Kindern ein Sommerferienlager bestimmt guttun würde. Sie nahm Gene Eppley, damals der reichste Mann in Omaha (der Flugplatz Eppley ist nach ihm benannt), mit ins Ferienlager der Heilsarmee, wo eines der begabten blinden Kinder als Unterhalter mitwirkte. Am nächsten Tag bot Eppley am Telefon 10.000 Dollar Unterstützung an, die allerdings an eine gesetzlich anerkannte gemeinnützige Organisation fließen müssten.

Über Nacht gründete Mom die Nebraska Foundation for Visually Impaired Children (Stiftung für sehbehinderte Kinder in Nebraska), um finanzielle Mittel und weitere Unterstützung zu gewinnen. Sie war der Meinung, dass die Kinder jedes Jahr ein Weihnachtsfest erleben sollten. Jedes blinde Kind bekam 25 Dollar und eine Begleiterin, mit der es Weihnachtsgeschenke für seine Eltern und Geschwister kaufen gehen konnte.

Als diese vielbeschäftigte Mutter, die selber drei kleine Kinder hatte, 1961 in Omaha als die »Ehrenamtliche des Jahres« geehrt wurde, war dies einer der stolzesten Tage meines Lebens. Ich durfte sogar früher aus der Schule, um am Mittagessen teilnehmen zu können. Bis heute setzen die Stiftung und die Braille-Gruppe ihre wichtige Arbeit zur Verbesserung der Le-
bensbedingungen für blinde Kinder und Erwachsene in Nebraska fort.

Moses Es ist nicht immer leicht, Gottes Ruf zu hören. Und es ist noch schwerer, danach zu handeln. Nehmen wir zum Beispiel Moses. Er ist ein privilegierter junger Mann, der am ägyptischen Hof vom Pharao, dem Herrscher Ägyptens, erzogen wird, nicht ahnend, dass er in Wahrheit Israelit ist.

Aber als er sieht, wie ein ägyptischer Aufseher einen hebräischen Sklaven schlägt, regt sich in ihm der Impuls, den Mann zu beschützen, und er tötet den Ägypter. Weil er weiß, dass er gerade eine Tat begangen hat, die ihn für immer aus der ägyptischen Aristokratie ausschließt, flieht er ins Land Midian. Dort heiratet er eine midianitische Frau, bekommt zwei Söhne – einen nennt er »Fremder« – und führt ein Leben als Schäfer.

Unterdessen wird das Leiden der Israeliten in Ägypten größer: Die Kinder Jisraël aber seufzten aus der Fron und schrien, und ihr Hilfeschrei stieg zu Gott empor aus der Fron. Und Gott hörte ihr Gestöhn, und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, mit Jizhak und mit Jaakob. Und Gott sah die Kinder Jisrael, und Gott merkte es (2. Buch Moses 2,23-25).

Anführer Auch Gott hört Rufe und antwortet. Gott beruft Moses zum Anführer. Während er seine Herde hütet, sieht Moses einen Busch in Flammen stehen. Doch, so heißt es in der Bibel, »der Dornbusch wurde nicht verzehrt« (2. Buch Moses 2,3). Moses sagt: »Ich will doch hingehen und diesen gewaltigen Anblick schauen, warum der Dornbusch nicht verbrennt.« Als Gott sieht, dass Moses es bemerkt hat, »da rief ihm Gott aus dem Dornbusch zu: ›Mosche, Mosche!‹« (2. Buch Moses 3–4).

Wie hat Moses auf den göttlichen Ruf reagiert? Zuerst antwortet Moses spontan und bedenkenlos: »Hineini – Hier bin ich!« Wenn man die Bibel genau liest, dann ist »Hier bin ich« bestimmt die richtige Antwort, wenn Gott ruft. Ja, dieser hebräische Begriff kommt in der Bibel 14-mal vor. Als Abraham zum Beispiel kurz davor ist, seinen Lieblingssohn Isaak zu opfern, ruft ihn ein Engel Gottes: »Abraham! Abraham!« Und Abraham antwortet: »Hineini – Hier bin ich« (1. Moses 22, 11).

Als Gott den Ruf erklärt – ich komme, das Volk meines Bundes aus den Fesseln der Sklaverei zu erretten, und du, mein Junge, sollst mein persönlicher Stellvertreter beim Pharao sein und ihre Freiheit von ihm fordern – hinterfragt Moses den Ruf: »Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten befreien sollte?«

Einwand Doch obwohl Gott ihm versichert »Ich werde mit dir sein«, hat Moses einen weiteren Einwand: »Wenn ich nun zu den Kindern Jisrael komme und ihnen sage: ›Der Gott Eurer Väter sendet mich zu euch‹ und sie mir sagen werden: ›Wie ist sein Name?‹ – was soll ich ihnen dann sagen?« Da offenbart ihm Gott den heiligen Namen: »Ehyeh-asher-Ehyeh – Ich bin, der ich sein mag.« (2. Buch Moses 3,14) und gibt ihm genaue Anweisungen.

Zum dritten Mal wehrt sich Moses: Wenn deine Familie, Freunde, deine Gemeinde dich rufen, antwortest du dann: »Hier bin ich«? »Da antwortete Mosche und sprach: ›Aber wenn sie mir nun nicht glauben und nicht auf meine Stimme hö-ren, sondern sagen: ›Der Ewige ist dir nicht erschienen?‹« (2. Buch Moses, 4,1).

Da zeigt Gott dem Moses durch eine Reihe von Verwandlungen, die die Magier Ägyptens in den Schatten stellen, die Macht göttlichen Eingreifens.

Dennoch widersetzt sich Moses ein viertes und letztes Mal: »Da sprach Mosche zum Ewigen: ›Ach, Herr, ich bin kein Mann der Rede, weder von gestern noch ehegestern, noch seitdem du zu deinem Knecht redest, denn schwer von Mund und Zunge bin ich.‹ ... Ach, Herr, sende doch, durch wen du senden magst.« An dieser Stelle wird Gott wütend auf Moses und beruft Aaron, Moses’ Bruder, zu seinem Sprecher, die beiden Brüder werden dem Pharao gemeinsam gegenübertreten.

Die biblische Geschichte weiß, wie schwer es ist, Gottes Ruf zu hören und darauf zu antworten. So beginnt auch das berühm-teste aller jüdischen Gebete, das Schma, mit dem Wort »höre«: Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.

Sinn und Zweck deines Lebens ist es, Gott zu dienen, Gottes Bote zu sein, Gottes Werk zu tun. Wenn Gott dich ruft, hörst du ihn dann und antwortest du »Hineini«? Wenn deine Familie, Freunde, deine Gemeinde dich rufen, antwortest du dann: »Hier bin ich«?

Ron Wolfson stammt aus Omaha/USA, und ist eine der bekanntestesten jüdischen Stimmen der USA. Er lehrt als Professor für Pädagogik an der American Jewish University Los Angeles. Wolfson ist Bestsellerautor zahlreicher Bücher zu verschiedenen Themen des jüdischen Lebens (»The Shabbat Seder« u.a.). Der Crotona Verlag hat zwei davon (»Der Himmel sucht Mitarbeiter« und »Sieben Fragen, die auch im Himmel gestellt werden«) in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Nachdruck aus »Der Himmel sucht Mitarbeiter – Gottes Aufgaben-Liste für seine irdischen Helfer«, Crotona, Amerang 2011, 175 S., 15,95 €

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024