Die »Ehrfurcht gebietenden Tage« von Rosch Haschana und Jom Kippur können ziemlich einschüchternd sein, und zwar nicht allein wegen der Gerichtsvorstellung dieser Zeit, sondern auch wegen der Komplexität von Ideen und Ritualen, die mit diesen Tagen verbunden sind.
Wer nicht jahrelange Synagogenroutine hat, kann sich leicht verloren vorkommen in den vielen thematischen Strängen, die diese Feiertage zu einer dichten Textur verknüpfen. Das fängt schon mit der Frage an, warum der Jahresbeginn in den siebten Monat fällt und nicht in den ersten.
kalenderordnung Aber warum auch sollten eine Religion und eine Lebenskultur, die seit Jahrtausenden gewachsen sind und in sich viele verschiedene Einflüsse aufgenommen haben, eindimensionale Antworten geben? Nach der Kalenderordnung der Tora gilt als der erste Monat der Frühlingsmonat (Nissan), in dem wir zu Pessach des Auszugs aus Ägypten gedenken.
Die Zählung der Jahre hingegen beginnt im Tischri, dem siebten Monat – und diese Praxis ist, wie die Monatsnamen, ein Mitbringsel aus dem Exil in Babylonien, wo der Jahreswechsel im Herbst begangen wurde. Nach einer talmudischen Überlieferung erschuf Gott die Welt im Tischri, die Jahreszahl 5784 verweist auf den Akt der Schöpfung und somit den Beginn allen Lebens.
Rosch Haschana ist ein sehr sinnliches Fest. Sein Geschmack ist der von Apfel mit Honig, sein Klang der des Schofars, seine Farbe ist das Weiß, in das die Synagogen und die Beter gekleidet sind. Und das jüdische Neujahrsfest ist eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen der Festlichkeit und fröhlichen Süße des Jahresbeginns und dem Furcht einflößenden Gedanken eines Gerichts, dem wir uns in diesen Tagen unterwerfen sollen.
terra incognita Die Gottesdienste sind lang (sie dauern je nach Synagoge drei bis fünf Stunden), weil sie viele Besonderheiten und zusätzliche Gebete umfassen. Denn der Jahreswechsel bedeutet, dass wir an – oder sogar auf – einer Grenzlinie stehen: Das alte Jahr ist abgeschlossen und das neue liegt als Terra incognita vor uns.
In einer Rückschau auf das vergangene Jahr suchen wir Vergewisserung, wer wir sind, an welcher Lebensstation wir uns befinden, wohin wir wollen und in welcher Gemeinschaft wir uns getragen fühlen. Vor uns steht das neue Jahr als große Unbekannte: Was wird es bringen an Gutem und an Bösem? Dieses Stehen an der Schwelle weckt Hoffnungen und auch Ängste, denen wir in zahlreichen Ritualen Ausdruck geben.
Die Hohen Feiertage handeln von der Macht des Wortes.
Die Hohen Feiertage handeln von der Macht des Wortes: von der Bitte um Vergebung bei Gott und den Mitmenschen wie auch vom Vertrauen auf die Kraft guter Wünsche, die wir anderen persönlich oder durch Grußkarten übermitteln. Beziehungen werden eben vor allem durch Sprache und durch Gesten repariert. Und den guten Wünschen gibt der Abend von Rosch Haschana viel Raum. Nach dem Lichterzünden und dem Kiddusch über Wein sprechen wir den Brotsegen über runde Barches (Challot), die mit ihrer Form Harmonie und Ganzheit ausdrücken.
segensspruch Mit dem folgenden Segensspruch über in Honig getunkten Apfel wünschen wir uns, dass das neue Jahr ein rundes und süßes werden möge. Diese Segenssprüche stehen in jedem Gebetbuch für Rosch Haschana. Und danach sind der Vielzahl von kreativen Wünschen keine Grenzen gesetzt: Mit einer Bracha über Granatapfelkerne erbitten wir, so zahlreich und fruchtbar wie diese zu werden; andere symbolische Speisen können durch ihre Beschaffenheit oder durch ihren Namen weitere Hoffnungen aufnehmen. Das lässt sich zu einem fröhlichen und bedeutungsreichen Spiel der ganzen Tischgemeinschaft ausweiten.
Die Morgengottesdienste von Rosch Haschana greifen eher den ernsten Charakter der Hohen Feiertage als einer Zeit des Gerichts auf. Das berühmte Gebet »Awinu Malkenu« bezieht sich auf die Beziehungsbilder von Vater und König, um Gott um liebevolle Barmherzigkeit und um Gnade zu bitten.
Und kaum jemand kann sich den Eindrücken von Melodie und Text des »Unetane Tokef« entziehen, das mit den Fragen »Wer wird leben und wer wird sterben? Wem wird es vergönnt sein, die Fülle seiner Tage auszukosten, wer wird vorzeitig abberufen?« an unsere tiefsten Ängste rührt.
Schofar Die archaischen Klänge des Schofars, dessen kurze und lange Töne in verschiedenen Kombinationen geblasen werden, verfehlen ebenfalls nicht ihre Wirkung. Die lange Gottesdienstdauer verdankt sich den drei zusätzlichen Bitten im Mussafgebet (»Malchujot, Sichronot, Schofarot«), die Gott als den wahrhaften König der Welt proklamieren und an die Verdienste unserer Vorfahren erinnern.
Nach dem Ende des Gottesdienstes folgt noch der beliebte Brauch des Taschlich, wegen des Schabbat dieses Jahr auf den zweiten Tag von Rosch Haschana verschoben: Wir gehen an einen Fluss, um unsere Verfehlungen symbolisch in Gestalt von Brotkrümeln ins Wasser zu werfen und mit den Worten des Propheten Micha (18–20) zu hoffen, dass wir Erbarmen finden und unsere Sünden in die Tiefen des Meeres gespült werden.
Furcht und Hoffnung, Tod und Leben, Loslassen und Neubeginn – diese Themen sind auch jenen nahe, denen die Sprache der traditionellen Gebete und Rituale zunächst fremd erscheint.
Die Autorin ist Rabbinerin der liberalen jüdischen Gemeinde Hameln.