Der Wochenabschnitt Nizawim gehört zum letzten Teil des 5. Buches Mose. Es beinhaltet Mosches Vermächtnis an das Volk Israel. Die nur 40 Verse umfassende Parascha wird immer am Schabbat vor Rosch Haschana gelesen. Sie gibt Mosches letzte Worte wieder, die er an der Grenze zum verheißenen Land kurz vor seinem Tod an die Kinder Israels richtet.
Am Ende des Abschnitts wird deutlich, dass Mosche das Volk für eine Zukunft mit Gott im Bunde gewinnen und festigen will, wenn er sagt: »Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, dass du den Ewigen, deinen Gott, liebst und Seiner Stimme gehorchst und dich an Ihn hältst. Denn das bedeutet für dich, dass du lebst und alt wirst und wohnen bleibst in dem Land, das der Herr deinen Vätern Awraham, Jizchak und Jakow geschworen hat, ihnen zu geben« (30, 19–20).
VERHALTEN Eingeleitet wird dieser Abschnitt – gewissermaßen in weiser Voraussicht – von einer Aussage über Gottes realistische Einschätzung zum Verhalten seines Volkes: »… und du dich bekehrst zu dem Ewigen, deinem Gott, dass du Seiner Stimme gehorchst, du und deine Kinder, von ganzem Herzen und von ganzer Seele in allem, was ich dir heute gebiete, so wird der Ewige, dein Gott, deine Gefangenschaft wenden und sich deiner erbarmen und wird dich wieder sammeln aus allen Völkern, unter die dich der Ewige, dein Gott, verstreut hat« (30, 2–3).
In der Tradition werden diese Verse 1–10 auch »Parascha der Umkehr« genannt. Hier treffen wir auf die Wiederholung als auffallendes Stilmerkmal, das sich häufig in der Tora findet. Es handelt sich dabei um den wiederholten Gebrauch desselben Verbs oder Substantivs, um einem bestimmten Gedanken Nachdruck zu verleihen. Wahrscheinlich gibt es kein besseres Beispiel dieser Stilfigur als die Wiederholung des Verbs »umkehren« oder »zurückkehren« in den ersten zehn Versen von Kapitel 30. Dort finden wir es sieben Mal.
Inhaltlich wird deutlich: Der Ewige rechnet mit dem Ungehorsam der Kinder Israels. Deshalb hat er von vornherein die Teschuwa, die Umkehr zu Ihm, als eine Option für Sein Volk im Auge. Kehren sich die zerstreuten Kinder Israels wieder ihrem Gott zu, wird Er sie aus allen Völkern sammeln.
THEMA Abraham Isaak Kook (1865–1935), der einstige Oberrabbiner im britischen Mandatsgebiet Palästina, schreibt, dass sich die Tora zu einem großen Teil mit der Teschuwa befasst und sie ein wesentliches Thema im Leben eines frommen Juden darstellt. Auf der einen Seite ist es leicht, Teschuwa zu machen. Kann man doch schon von Umkehr sprechen, wenn man nur daran denkt, sie vollziehen zu wollen.
Auf der anderen Seite merkt man in der Praxis immer wieder: Wirklich umzukehren, entpuppt sich als eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt. Jeder weiß, wie schwer es fällt, eingefahrene Gleise zu verlassen. Es fragt sich, wann der Punkt für einen Menschen gekommen ist, an dem er sich entscheidet, Teschuwa zu machen, um zum guten Weg zurückzukehren. Wie führt man Teschuwa aus, und wie kann man seinem Herzen etwas befehlen?
Die Vorstellung und die Praxis der Teschuwa spielt eine zentrale Rolle im Judentum. Sie ist an den Bund gekoppelt, den Gott mit dem Menschen geschlossen hat. In diesem Bund zu stehen und ihn zu halten, bedeutet auf der Seite des Menschen, dass er die Mizwot erfüllen soll. Tritt aber die Sünde als Störfaktor zwischen Mensch und Gott, setzt sie den Bund zwischen beiden außer Kraft, wenn sie ihn auch nicht zerstören kann.
reparaturwerkzeug Mit der Teschuwa hat der Ewige seinen Kindern sozusagen das Reparaturwerkzeug in die Hand gegeben. Entschließt sich ein Mensch, den Weg der Umkehr einzuschlagen, dann begibt er sich in den Prozess, sein Verhältnis zu Gott wieder instand zu setzen, es zu erneuern. Er nimmt Abstand von der Sünde und wendet sich der Tora zu, die ihn lehrt, den Weg der Gebote zu gehen.
Damit begibt er sich unter die Verheißung, die der Prophet Jeschajahu dem abtrünnigen Volk verkündigt: »Der Gottlose lasse von seinem Weg und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Ewigen, so wird Er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei Ihm ist viel Vergebung« (55,7).
Voraussetzung aller Umkehr ist die Reue. Sie geht der Teschuwa voraus. Wenn ein Mensch sein Verhalten bereut, seinen verkehrten Weg, den er bisher gegangen ist, dann übernimmt er Verantwortung für sein Handeln. Der Verantwortung liegt immer die freie Wahl zugrunde, so wie sie dem Volk von Mosche ins Bewusstsein gerufen wurde: »Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das Leben erwählst« (5. Buch Mose 30,19).
Verantwortung In der Tat wurzelt die jüdische Lehre wesentlich in der Lehre von der Verantwortlichkeit, das heißt, dem freien Willen des Menschen. »Alles ist in Gottes Hand, ausgenommen die Furcht Gottes« – diese Erkenntnis gilt unwidersprochen bei den Rabbinen.
Der Mensch ist frei, zwischen Gut und Böse zu wählen. Gewiss ist der Aktionsradius unserer Willensfreiheit durch Erbanlagen und Milieu begrenzt. Jedoch ist unsere Lebenssphäre größtenteils von uns selbst abhängig. Vom Menschen hängt es ab, ob sein Leben einem Kosmos gleicht, in dem er den Mizwot folgt, oder ob er der Sünde in seinem Leben freien Lauf lässt.
Wenn wir auch keineswegs immer Herr unseres Schicksals sind, so hat der Ewige doch die Zügel der Lebensführung in die Hände des Menschen gelegt. Und dazu gehört auch sein Wille zur Teschuwa. Sie muss von ganzem Herzen kommen und mit dem Verlangen verbunden sein, sich die verkehrten Wege und Taten der Vergangenheit wahrhaftig einzugestehen. Das zu tun, bietet sich in besonderer Weise von Erew Rosch Haschana bis Jom Kippur an.
Rabbiner Zuscha von Hanipol (1719–1800) gibt zu den hebräischen Buchstaben des Wortes »Teschuwa« folgende Erklärung: Das »Taw« bedeutet: »Ehrlich sollst du mit deinem Gott sein«, das »Schin«: »Ich bin mir bewusst, immer vor Gott zu stehen«, das »Waw«: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«, das »Beth«: »Auf allen deinen Wegen sollst du Gott erkennen«, und das »Heh« steht für die Aufforderung: »Sei bescheiden im Umgang mit Gott!«
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Im Zentrum des Wochenabschnitts Nizawim steht der Bund des Ewigen mit dem gesamten jüdischen Volk. Diesmal sind ausdrücklich auch diejenigen Israeliten miteinbezogen, die nicht anwesend sind: die künftigen Generationen. Gott versichert den Israeliten, dass Er sie nicht vergessen wird, doch sie sollen die Mizwot halten.
5. Buch Mose 29,9 – 30,20